Auffällige Jugendliche auf dem Jahrestagsfest in Berlin
9. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 751/66 über Vorkommnisse mit Jugendlichen während des Volksfestes anlässlich des 17. Jahrestages der DDR in der Karl-Marx-Allee in Berlin
Vom Beginn bis gegen 18.00 Uhr kam es beim zentralen Volksfest anlässlich des 17. Jahrestages der DDR1 im Bereich der Karl-Marx-Allee zu keinen besonderen Vorkommnissen. Der Besucherkreis bestand vorwiegend aus älteren Personen und Familien mit Kindern.
In der Folgezeit hielten sich jedoch sehr viele Jugendliche in der Karl-Marx-Allee auf, die sich zum Teil in Gruppen durch die Allee bewegten. Dabei konnte festgestellt werden, dass diese Gruppen isoliert voneinander auftraten.
Erfahrungsgemäß kommt es bei derartigen Volksfesten und ähnlichen Veranstaltungen fast immer zu Konzentrationen und Zusammenballungen von Jugendlichen, ohne dass dabei eine direkte feindliche Zielstellung erkennbar ist.
Begünstigt wurden diese Konzentrationen u. a. durch ungenügende Möglichkeiten spezieller Veranstaltungen für die Jugendlichen und durch die Überfüllung der einzigen Großveranstaltung im Klub der Jugend und Sportler in der Karl-Marx-Allee.
Obwohl in den einzelnen Gruppen selbst keine direkte feindliche Organisiertheit festgestellt werden konnte, kam es in den Abendstunden des 7.10.1966 zu zeitweiligen Störungen des Volksfestes durch rowdyhafte Handlungen von Jugendlichen. Konzentrationen bildeten sich vorwiegend am Strausberger Platz, vor dem Zentralen Klub der Jugend und Sportler2 und im Bereich zwischen Strausberger Platz und Schillingstraße heraus.
Der Mangel an zentralen Veranstaltungen besonders für die Jugendlichen, sowie die Überfüllung des Klubs der Jugend und Sportler in der Karl-Marx-Allee und anderer Unterhaltungsstätten führten dazu, dass große Gruppen der jugendlichen Besucher ständig die Karl-Marx-Allee entlangzogen. Dadurch wurden die Einleitung von Sicherungsmaßnahmen nicht unwesentlich erschwert und der Einsatz von zusätzlichen Sicherungskräften erforderlich.
Dem Verhalten des größten Teils der Jugendlichen war zu entnehmen, dass sie offensichtlich an Tanzmöglichkeiten bzw. Tanzmusikveranstaltungen interessiert waren und das Niveau der dargebotenen Programme stark kritisierten und verurteilten. Weiterhin befanden sich unter den Jugendlichen einige, die durch die Kleidung und Frisur anstößig wirkten, die andere Passanten belästigten und eingesetzte Sicherungskräfte beleidigten. Sie widersetzten sich den gegebenen Weisungen und Ermahnungen und störten durch Lärmen und Randalieren den reibungslosen Ablauf der Veranstaltungen an den Freilichtbühnen, besonders der Bühne II in Höhe der Verkaufsstelle »Kunst im Heim«. Die Rädelsführer solcher Ausschreitungen konnten jedoch in allen Fällen schnell isoliert und zur Überprüfung der Vorfälle festgenommen werden.
Bereits gegen 18.15 Uhr hatten sich in Höhe des Kinos »International« einige renitente Jugendliche versammelt, die sich bei der Zuführung zweier Rowdys zu dem in der 16. Oberschule stationierten Einsatzstab bewegten und durch Rufe provokatorischen und aufwiegelnden Charakters die Freilassung der zugeführten Jugendlichen forderten. Beim Einschreiten der Sicherungskräfte riefen sie u. a. »Schlagt sie tot«, »Blut wollen wir sehen« und »Die Bullen machen wir fertig«. Die Wortführer konnten festgenommen werden.
Gegen 19.15 Uhr kam es vor dem Klub der Jugend und Sportler zu einer größeren Ansammlung von Jugendlichen, die wegen Überfüllung keinen Einlass erhielten. Da sie den Weisungen der VP-Kräfte, in disziplinierter Form das Gelände um den Klub zu räumen, nicht nachkamen und randalierten, wurden aus dieser Ansammlung in größerem Umfang Personen dem VP-Stützpunkt zugeführt.
In der Zeit zwischen 21.30 Uhr und 23.00 Uhr kam es vor dem in der Karl-Marx-Allee 45 gelegenen Stützpunkt der VP wiederholt zu Ansammlungen bis zu 200 Personen. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in diesem Abschnitt wurden ebenfalls mehrere Jugendliche zugeführt. Unter diesen zugeführten Jugendlichen befand sich auch der 14-jährige Sohn Havemanns, Florian,3 der mit drei weiteren Jugendlichen durch auffällige Kleidung (Gehrock und Zylinder) Anstoß erregte. Die Jugendlichen handelten aus Übermut und wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich lenken. Nach Klärung des Sachverhaltes wurden sie den Erziehungsberechtigten übergeben.
Als gegen 22.00 Uhr zum Zweck der Unterbindung erneuter Zusammenrottungen die noch in Gruppen anwesenden Jugendlichen durch VP-Einsatzkräfte in die Seitenstraßen und in Richtung Alexanderplatz abgedrängt wurden, kam es in der Nähe des Cafés »Moskau«4 zu einer weiteren Konzentration von ca. 800 Personen und zu Tumulten.
Insgesamt wurden bis gegen 1.00 Uhr des 8. Oktober 1966 153 Personen den VP-Inspektionen Mitte und Friedrichshain zugeführt.
Die wesentlichsten Gründe der Zuführungen waren:
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Rowdyhaftes Verhalten, Störung der Veranstaltungen und laute, abfällige Bemerkungen über die Programme.
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Störung der Handlungen der Sicherungskräfte, renitentes Verhalten bei Weisungen und Ermahnungen der Sicherungskräfte und Aufwiegelung und Tätlichkeiten gegen die Einsatzkräfte.
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Anstößiges Äußeres in Verbindung mit provokatorischem Auftreten (z. B. Jugendliche mit Beatle-Frisur in betont schlechter und zerrissener Kleidung, in der sie sich provokatorisch fotografieren ließen, teilweise uniformiertes Aussehen ganzer Gruppen, überlautes Spielen von Kofferradios usw.).
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Hetzerische Äußerungen gegen die DDR.
In einzelnen Fällen wurden die Zuführungen auch von Bürgern der Hauptstadt, die als Besucher des Volksfestes in der Karl-Marx-Allee weilten, angeregt und unterstützt.
Die Untersuchungen und die Vernehmungen der festgenommenen Jugendlichen erbrachten den eindeutigen Beweis, dass die von den Jugendlichen verursachten Vorkommnisse nicht den Charakter einer von feindlichen Elementen organisierten Provokation trugen, sondern spontan an verschiedenen Stellen der Karl-Marx-Allee entstanden waren.
Neben den bereits angeführten Faktoren müssen als weitere begünstigende Bedingungen für das Zustandekommen und den Verlauf der Vorkommnisse in der Karl-Marx-Allee gesehen werden:
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die Konzentrierung des Volksfestes auf den Bereich der Karl-Marx-Allee;
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das Fehlen von Veranstaltungen in anderen Stadtbezirken der Hauptstadt der DDR.
Dadurch kam es in der Karl-Marx-Allee zur Konzentrierung von Jugendlichen aus allen Stadtbezirken und den Randgebieten der Hauptstadt der DDR. So stammen auch die zugeführten Jugendlichen aus allen Stadtbezirken und zwar aus
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Friedrichshain 25
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Lichtenberg 22
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Mitte 22
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Prenzlauer Berg 18
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Treptow 14
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Köpenick 14
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Pankow 12
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Weißensee 9
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Randgebiete 17
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Gesamt: 153
Von den zugeführten Jugendlichen waren zehn unter 16 Jahren, 115 von 16 bis 19 Jahre alt, 19 im Alter von 20 bis 25 Jahre und neun über 25 Jahre alt.
Bis auf zwei Jugendliche stehen alle Zugeführten in einem festen Arbeitsverhältnis bzw. besuchen eine allgemeinbildende Schule. Nur einzelne der zugeführten Jugendlichen wurden bereits zu einem früheren Zeitpunkt wegen rowdyhaften Verhaltens bekannt.
Davon gehören einige der Festgenommenen negativen Jugend-Gruppierungen, wie »Schwarzer Panther« Pankow,5 Gruppierung »Boxhagener Platz«,6 »Lichtenberger Tunnelgruppe«7 (S-Bahnhof Lichtenberg) u. a. an.
Wie die bisherigen Untersuchungen über die Ursachen und Motive weiter ergaben, wollten die Jugendlichen vorwiegend ihr Missfallen gegenüber der Programmgestaltung zum Ausdruck bringen. Der überwiegende Teil der Darbietungen auf den einzelnen Bühnen entsprach nicht ihren Erwartungen und führte aufgrund der sich entwickelnden Enttäuschung zu Missfallenskundgebungen in Form von Pfeifen und Gejohle.
Insgesamt ist einzuschätzen, dass vom Veranstalter und den Verantwortlichen für die Programmgestaltung nur in ungenügendem Maße den Interessen der Jugendlichen Rechnung getragen wurde. Es fand lediglich eine Großtanzveranstaltung im Zentralen Klub der Jugend und Sportler statt, zu der nur ca. 500 Personen Einlass gewährt werden konnte. Dem steht gegenüber, dass es allein in der Hauptstadt der DDR ca. 150 000 Jugendliche gibt.
In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass in der letzten Zeit von örtlichen Organen einzelner Stadtbezirke der Hauptstadt der DDR Maßnahmen eingeleitet wurden, die zur Schließung von Jugendclubs und anderen Räumlichkeiten zur Durchführung von Tanzveranstaltungen führten. Dadurch wurden die Möglichkeiten der Jugend für Tanzveranstaltungen und einer anderen kulturellen Freizeitbeschäftigung eingeschränkt. (Zum Beispiel wurde in der letzten Zeit aufgrund einiger Vorkommnisse der »Prater«8 in der Kastanienallee geschlossen. Das Lokal bot 700 Jugendlichen Tanzmöglichkeiten.)
Weitere Mängel bestanden im Einsatz der FDJ-Ordnungsgruppen. Im Gegensatz zu früheren, ohne Vorkommnisse verlaufenden Veranstaltungen, wurde der Einsatz der FDJ-Ordnungsgruppen diesmal nicht von der Bezirksleitung der FDJ, sondern von den FDJ-Kreisleitungen organisiert. Dadurch waren von den vorgesehenen 150 FDJ-Ordnern nur 49, darunter sieben Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren, erschienen.
Im Ergebnis der durchgeführten Untersuchungen wurden gegen neun Personen Ermittlungsverfahren mit Haft und gegen weitere 13 Personen Ermittlungsverfahren ohne Haft eingeleitet. Davon wurden in drei Fällen E-Verfahren wegen Verdachts der staatsgefährdenden Propaganda und Hetze und in allen übrigen Fällen wegen Verdachts von Staatsverleumdung und Widerstandsdelikten eingeleitet.
Bei weiteren 66 Jugendlichen ist der Erlass polizeilicher Strafverfügungen wegen ungebührlichen Benehmens vorgesehen. In 65 Fällen wurden die Jugendlichen nach einer entsprechenden Belehrung ihren Erziehungsberechtigten übergeben.