Diskussionsthemen in der Bevölkerung 5 Jahre nach Mauerbau
11. August 1966
Einzelinformation Nr. 600/66 über die Situation unter der Bevölkerung der Hauptstadt der DDR und die Stimmung im Hinblick auf den bevorstehenden 5. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze der DDR am 13. August 1966
In jüngster Vergangenheit und Gegenwart gab und gibt es in Berlin keinerlei ernsthafte feindliche und provokatorische Handlungen und Aktionen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem 5. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze Berlin zu sehen sind.1 Es ist auch kein Ansteigen der staatsfeindlichen Propaganda und Hetze festzustellen. Lediglich im VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn wurden am 3.8.1966 die Buchstaben einer Wandzeitung so verändert, dass eine Hetzlosung gegen den 5. Jahrestag der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles entstand.
Auch feindliche oder negative Diskussionen gegen den 5. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze Berlin sind fast nicht festzustellen, wie die Diskussionen zu diesem Problem überhaupt gegenwärtig keinen Schwerpunkt darstellen, auf Einzeläußerungen beschränkt bleiben und noch keine Gesamteinschätzung zulassen.
Im Vordergrund aller Diskussionen stehen vielmehr
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die verbrecherische Aggression in Vietnam,2
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Probleme der Versorgung und der Preisregulierungen,
während Diskussionen zum Dialog zwischen SED – SPD sehr stark zurückgegangen sind und keinen wesentlichen Umfang mehr einnehmen.3
Die Diskussionen zur Vietnam-Aggression der USA sind fast ausschließlich positiv und nahezu einmütig wird die Beendigung der Aggression gefordert und die Hilfe für Vietnam unterstützt. In Einzelfällen wird die Möglichkeit der Unterstützung Vietnams durch Freiwillige (entsprechend der Bukarester Tagung)4 durch negative und stark pazifistische Diskussionen abgelehnt und dazu ferner bestimmte Gerüchte und Spekulationen über »Beginn der Freiwilligenwerbung«, »Stärke der Freiwilligenverbände der DDR«, »ihre Besoldung« usw. verbreitet. Ebenfalls vereinzelt gibt es Tendenzen, durch Ablehnung der Spenden für Vietnam eine schnellere Beendigung des Krieges herbeiführen zu wollen.
Unter einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung löste die mit Wirkung vom 11.7.1966 für bestimmte Erzeugnisse in Kraft getretene Preisregulierung zahlreiche Diskussionen aus und nimmt oft – unter Beteiligung aller Schichten der Bevölkerung – die erste Stelle in der Diskussion ein.5
Die Diskussionen lassen erkennen, dass die Preisregulierung teilweise nicht verstanden und infolgedessen abgelehnt wird. Charakteristisch ist, dass diese ökonomische Maßnahme nicht als Preisregulierung, sondern als Preiserhöhung angesehen wird.
Begründet werden diese Meinungen häufig mit »unzureichenden Veröffentlichungen in den Publikationsorganen der DDR«. Das Fehlen von »zahlenmäßigen Gegenüberstellungen« bzw. von alten und neuen Preisen bei den gängigsten Konsumartikeln wird als Zugeständnis von Preiserhöhungen gewertet.
Andererseits wird häufig die Veröffentlichung des Zahlenmaterials hinsichtlich der Erhöhung der Kaufkraft der Bevölkerung um 50 Mio. MDN mit Skepsis aufgenommen bzw. direkt als »unwahr« abgelehnt.
Die Senkung der Preise für nahtlose Damenstrümpfe findet zwar weitgehendst Zustimmung, wird jedoch als »Ausgleich« für »Preiserhöhungen« mehrfach mit dem Hinweis abgelehnt, dass eine solche Regulierung seit langem »fällig gewesen sei«. Bei teilweisen Vorbehalten zu dieser »Preissenkung« bei Damenstrümpfen wird geäußert, durch »schleichende Preissteigerungen« mit der Begründung einer Qualitätsverbesserung müsse in Kürze wieder mit dem Steigen der Preise gerechnet werden.
Weitere allgemeine Tendenzen in der allgemeinen Reaktion der Bevölkerung der DDR:
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Die Preisregulierung läge nicht im Interesse der Werktätigen.
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Die »Preiserhöhungen« beträfen in erster Linie die Arbeiter, da es sich – neben einigen Luxusartikeln – in erster Linie um »gängige Konsumgüter« handle.
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Es wäre »vorteilhafter«, die Ersatzteile für größere Wagentypen im Preis zu erhöhen; die Reparaturkosten für »Trabant«-Besitzer seien erheblich.
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Die Auswirkungen der Industriepreisreform lägen jetzt auf der Hand.6 Dabei wird auf »Versprechungen« verwiesen, die von »hohen Staatsfunktionären« vor Einführung der Industriepreisreform gegeben worden seien. Danach hätte eine »Preiserhöhung« nicht erfolgen dürfen. Solche Maßnahmen würden das Vertrauen der Bevölkerung in die Partei- und Staatsführung »strapazieren«.
Im Zusammenhang mit der Preisregulierung sind Argumente, den Lebensstandard Westdeutschlands betreffend, stark im Ansteigen. Erklärt wird, die DDR-Publikationsorgane würden bei Preissteigerungen in Westdeutschland einen großen »Propagandarummel« veranstalten, während bei »Preissteigerungen« in der DDR keine Veröffentlichungen erfolgen würden. In vielen Fällen fallen die angestellten »Vergleiche« zu Gunsten Westdeutschlands aus.
Spekulationen über mögliche Gründe der »Preiserhöhung« sind vielfach verbreitet, insbesondere in der Richtung
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die »erwirtschafteten« Gelder würden für DDR-Aufwendungen in Vietnam benötigt,
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die DDR sei ökonomisch am Ende,
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die DDR suche nach Möglichkeiten, die Finanzfehlentwicklung auszugleichen und die Kaufkraft der Bevölkerung abzuschöpfen.
Es wird Zweifel an der Stabilität unserer Währung geäußert. Bei steigenden Leistungen müssten die Preise normalerweise sinken.
In geringem Umfang gibt es eine Zunahme von Diskussionen über eine angeblich bevorstehende Mietpreiserhöhung im Ergebnis der Verteuerung der Baumaterialien.
In Einzelfällen wird unter Hinweis auf den 17.6.1953 geäußert, dass damals eine »ähnliche Situation« bestanden hätte.7 Bei weiteren ähnlichen Maßnahmen wie die Preisregulierung [sic!] könnte es unter Umständen auch heute wieder zu einem neuen 17.6. kommen. (Angefallene Personen stehen unter Kontrolle.) (Diese letztgenannten Diskussionen sind aber keinesfalls typisch für die gesamte Problematik.)
Zu Missstimmungen unter der Bevölkerung der Hauptstadt führten außerdem folgende Probleme des Handels und der Versorgung.
Durch die teilweise Schließung von Bäckereiverkaufsstellen – hauptsächlich privaten – während der Urlaubssaison treten trotz notwendiger Genehmigungsvermerke durch die verantwortlichen staatlichen Dienststellen Überschneidungen in den einzelnen Stadtbezirken auf. Die damit fehlenden Verkaufskapazitäten führten wiederholt zu Schlangenbildungen vor noch geöffneten Verkaufsstellen besonders nach frischen Schrippen und somit zu unzufriedenen Diskussionen. (Obwohl insgesamt im Verhältnis zur Sommersaison 1965 eine Verbesserung in der Urlaubsplanung der Gewerbetreibenden durch Einflussnahme der Räte der Stadtbezirke erreicht wurde, reichen die koordinierenden Maßnahmen bisher nicht aus.)
In diesem Zusammenhang ist einzuschätzen, dass eine gewisse Unzufriedenheit unter der Berliner Bevölkerung hinsichtlich der Versorgung mit frischen Backwaren – nicht Konditorwaren – das ganze Jahr über, wenn auch in geringem Umfang, anhält. Bedingt sind diese Beschwerden durch aus Altersgründen erfolgte Abmeldungen des Bäckereigewerbes und Schließung mehrerer Bäckereien und durch die teilweise erst im Laufe des Vormittags erfolgte Anlieferung von in der Nacht gebackenen Backwaren aus den Großbäckereien.
Eine weitere Diskussionsgrundlage bilden die in zahlreichen Verkaufsstellen aus Urlaubsgründen festgestellten willkürlichen Öffnungszeiten, wobei die in zentralen Beschlüssen festgelegten und veröffentlichten Ladenöffnungszeiten häufig verletzt werden.
Schwierigkeiten bestehen gegenwärtig in Zentrumsgaststätten durch das Fehlen von etwa 250 Arbeitskräften, wodurch eine reibungslose Bedienung der Gäste nicht immer gewährleistet ist. Außerdem mussten mehrere Gaststätten im Bereich der HOG »Zentrum« schließen. Der Einsatz von Aushilfskräften nach dem Beispiel anderer Bezirke der DDR – z. B. Gewinnung von Studenten und Oberschülern – ist in der Hauptstadt nur in ungenügendem Maße erfolgt.
Weitere Diskussionen im Raum Berlin – besonders unter Arbeitern, Angestellten und in unteren Lohngruppen – betreffen die Einrichtung von Delikatessverkaufsstellen8 und anderer Exquisit-Geschäfte.9 Die Preisrelationen stünden dort in keinem Verhältnis zum Wert und zum Verdienst eines Arbeiters. Es handle sich um eine »staatliche Sanktionierung« des Schwindelkurses mit der Westmark und um ein »Zugeständnis« der »schwankenden Währungsstabilität« der DDR.
Außerdem gibt es folgende beachtenswerte Diskussionen der Bevölkerung der Hauptstadt der DDR, auch wenn sie keinen großen Umfang haben, wie die zu den vorgenannten Problemen.
Noch immer wird in zahlreichen Diskussionen Unverständnis über die Absetzung des Filmes »Spur der Steine« geäußert, besonders unter Kulturschaffenden, in studentischen Kreisen, unter Journalisten und anderen.10 Mitarbeiter der DEFA äußerten, man dürfe keine Gegenwartsstücke mehr drehen. Am sichersten seien Märchen und Indianerfilme. Verschiedene Kräfte, z. B. Manfred Krug,11 sehen in den Vorkommnissen um die Absetzung des Films einen Ausdruck für zwei Linien innerhalb der Partei. Von Mitarbeitern der NBI – Chefredakteur Röhrer12 – ehemaliger Abteilungsleiter Kultur Schießer13 und anderen Journalisten wurden die Vorkommnisse bei der Berliner Aufführung des Filmes abgelehnt, besonders solche Zwischenrufe, »sperrt den Regisseur ein« und ähnliche.
An der Hochschule für Ökonomie wurden von Studenten Fragen aufgeworfen:
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Wie kann ein Film, der nach der Voraufführung gut geheißen wurde und eine glanzvolle Premiere erlebte, auf einmal negative Tendenzen aufweisen?
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Wie kann ein Film, der im Neuen Deutschland als wirklichkeitsfremd bezeichnet wird,14 vorher propagandistisch herausgestellt und durch Fachgremien freigegeben werden?
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Warum kam es zu keiner Aussprache mit dem Regisseur und den anderen Filmschaffenden, die man veröffentlichte?
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Warum fehlt eine offene Stellungnahme der Schöpfer des Filmes?
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Welche Rolle spielt die Betriebsparteiorganisation der DEFA?