Ein Toter bei zwei Fahnenfluchten in Kohlhasenbrück
21. März 1966
Einzelinformation Nr. 224/66 über eine Fahnenflucht und eine verhinderte Fahnenflucht im Raum des KP Kohlhasenbrück bei Potsdam am 19.3.1966
Am 19.3.1966 gegen 6.20 Uhr bewegten sich zwei NVA-Angehörige ca. 200 m rechts vom KP Kohlhasenbrück bei Potsdam in Richtung Westberlin. Die Annäherung an die Staatsgrenze zu Westberlin erfolgte durch den Wald, parallel zur Autobahn Leipzig – Westberlin, ca. 400 m in Höhe der Grenzübergangsstelle Drewitz. Bei Annäherung an den Kontrollstreifen wurde von den Grenzverletzern ein Signalgerät ausgelöst und zwei eingesetzte Diensthunde der NVA erschossen bzw. erstochen.
Beim Verlassen des Waldes eröffneten die Flüchtigen das Feuer auf die am KP Kohlhasenbrück eingesetzten NVA-Grenzposten und begaben sich im Laufschritt in Richtung des Panzersperrgrabens.
Von den eingesetzten NVA-Posten am KP Kohlhasenbrück wurde sofort gezieltes Feuer gegen die Grenzverletzer geführt.
Dabei wurde der Unteroffizier Marzahn, Willi,1 geboren 3.6.1944,2 NVA seit 3.11.1964, Mitglied der FDJ, Dienststellung Waffenmeister im 3. MSB, MSR 2, 1. MSD, verheiratet, ein Kind, getroffen. Er brach unmittelbar vor dem Panzersperrgraben zusammen und blieb dort liegen.
Der zweite NVA-Angehörige Unteroffizier [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1943, NVA seit 4.5.1965, Mitglied der FDJ, Dienststellung Gruppenführer im 3. MSB, MSR 2. 1. MSD, erkletterte die Panzermauer, begab sich über den zweiten Kontrollstreifen in Richtung pioniertechnische Anlage und versuchte diese zu überwinden. Dabei blieb er im Drahtzaun hängen, ließ sich anschließend fallen und war für die feuerführenden Posten dadurch nicht mehr sichtbar. Die weitere Untersuchung ergab, dass er anschließend den Drahtzaun durchkroch und Westberliner Gebiet erreichte. Bisher gibt es keine Anzeichen, dass [Name 1] verletzt wurde.
Nachdem das Feuer von den NVA-Grenzposten am KP Kohlhasenbrück eröffnet wurde, beteiligte sich auch der Grenzposten am B-Turm 4,3 der ca. 150 m von der Durchbruchstelle entfernt ist, mit an der Feuerführung. Insgesamt wurden 105 Schuss abgegeben.
Gegen 6.25 Uhr erschienen zwei Angehörige der Westberliner Polizei gegenüber der Durchbruchstelle und bezogen Feuerstellung. Später wurden sie durch weitere Kräfte verstärkt, die ebenfalls in Feuerstellung gingen.
Der Abtransport des verletzten Unteroffiziers Marzahn erfolgte gegen 6.40 Uhr. Der Unteroffizier wurde sofort in das Armeelazarett Drewitz eingeliefert, wo er gegen 9.00 Uhr seinen Verletzungen (Einschuss hinter dem linken Ohr, Austrittsstelle hinter dem rechten Ohr) erlag.
Bei dem verletzten Unteroffizier Marzahn wurden eine MPi und aus der Gesäßtasche eine Pistole »M« im durchgeladenen Zustand sichergestellt. Die MPi des flüchtigen Unteroffiziers [Name 1] wurde an der Durchbruchstelle, unmittelbar an der PTA und die Pistole am Panzersperrgraben aufgefunden. Die bisherige Untersuchung der Waffen ergab, dass aus der MPi des Unteroffiziers Marzahn und der am Panzersperrgraben aufgefundenen Pistole geschossen wurde. Die von Unteroffizier [Name 1] an der Durchbruchstelle abgelegte MPi wies nach der bisherigen Untersuchung keine Pulverspuren im Lauf auf.
Es muss angenommen werden, dass das Vorkommnis zum Teil von Westberliner Seite (KP Kohlhasenbrück sowie von Steinstückener Bürgern, die zu diesem Zeitpunkt den Verbindungsweg zwischen Steinstücken und dem KP Kohlhasenbrück benutzten) beobachtet wurde.
Die bisherigen Untersuchungen in der Diensteinheit der Grenzverletzer ergaben Folgendes:
Marzahn und [Name 1] hatten am 18.3.1966 Ausgang nach Stahnsdorf. Beide kehrten am 19.3.1966, gegen 3.00 Uhr in das Objekt zurück und Marzahn begab sich zum diensthabenden Läufer des Bataillons4 Gefreiter [Name 2]. Im Dienstzimmer des Unteroffiziers vom Dienst hielt sich auch der Diensthabende des Bataillons Unterfeldwebel [Name 3] auf, der zurzeit des Betretens des Zimmers durch Unteroffizier Marzahn schlief. Nach einer kurzen Unterhaltung mit [Name 3] schimpfte Marzahn vor sich hin, dass er schon wieder mit der Kontrolle der Waffenkammer beauftragt worden sei. Mit ihm können man das nicht mehr machen. Anschließend nahm er sich den Waffenkammerschlüssel aus dem Schlüsselkasten und sagte zu [Name 2]: »Los, hier den Waffenkammerschlüssel eintragen!« Da [Name 2] den Marzahn als Waffenmeister kannte und er über die Berechtigung zum Betreten der Waffenkammer informiert war, trug er den Schlüssel in das Ausgabebuch ein und ließ Marzahn dafür quittieren. Nach ca. drei Minuten begab sich [Name 2] zur Waffenkammer, um Marzahn zu kontrollieren. Dabei stellte er fest, dass die Gittertür zur Waffenkammer geöffnet war, aber Marzahn außerhalb der Waffenkammer an einem Fenster an der Stirnseite des Flures stand und sich mit jemanden unterhielt. [Name 2] schenkte dem Gespräch jedoch keine Bedeutung und ging daraufhin in sein Dienstzimmer zurück. Nach ca. fünf Minuten kam auch Marzahn zurück und gab den Waffenkammerschlüssel zurück. Danach verließ Marzahn das Objekt wieder.
Nach bisherigen Untersuchungen hat Marzahn während der angeblichen Kontrolle der Waffenkammer dem Unteroffizier [Name 1] die Waffen mit der dazugehörigen Munition aus dem Fenster gegeben. Durch eingesetzte Fährtenhunde wurde festgestellt, dass die Waffen in der Nähe des Unterkunftsblockes des Bataillons durch den Zaun gesteckt und aus dem Objekt herausgelegt wurden. Gegen 3.02 Uhr passierten Marzahn und [Name 1] die Wache und verließen erneut das Objekt. Beide hatten bis 19.03.1966, 6.00 Uhr Ausgang.
Da Marzahn als Waffenmeister bekannt ist, stellte [Name 2] keine weiteren Untersuchungen an und erstattete auch keine Meldung an seine Vorgesetzten. Der Diensthabende meldete erst gegen 6.30 Uhr das Fehlen der beiden Unteroffiziere an den Offizier vom Dienst. Aufgrund der eingeleiteten Überprüfungen wurde dann auch das Fehlen der entwendeten zwei MPi, drei Pistolen, 200 Schuss MPi-Munition und 220 Schuss Pistolenmunition festgestellt.
Zur Person:
Marzahn war zuletzt als Maschinenschlosser im Erdölverarbeitungswerk Schwedt tätig. Er war Soldat auf Zeit, beabsichtigte jedoch, diese Verpflichtung rückgängig zu machen. 1964 besuchte er einen Geschützmeister-Lehrgang. Am 30.4.1965 wurde er zum Unteroffizier befördert, weiter erhielt er zwei Belobigungen wegen ausgezeichneter Leistungen. Nachdem er als Geschützmeister tätig war, wurde er am 16. März 1966 voll verantwortlich für die Betreuung der Waffenkammer des Stabes des III. MSB eingesetzt. In seiner Diensteinheit wurde er bisher nur positiv beurteilt. Marzahn hat sieben weitere Geschwister, die alle in der DDR wohnen. Der Vater des M. wurde 1961 republikflüchtig. Die Mutter ist als Buchhalterin tätig und Mitglied der SED.
[Name 1] war vor seiner Einberufung als Elektriker in der Energieversorgung in Belzig beschäftigt. Nach der Grundausbildung besuchte er einen Unteroffizier-Lehrgang und wurde am 26.10.1965 als Gruppenführer eingesetzt. Am 1.2.1966 wurde er zum Unteroffizier befördert. Während er anfangs seinen Dienst nur oberflächlich und undiszipliniert versah, änderte sich dies nach seiner Rückkehr vom Unteroffizier-Lehrgang. Aufgrund guter Ausbildungsergebnisse und Disziplin wurde er mehrfach belobigt. [Name 1] hat fünf weitere Geschwister, wovon je eine Schwester 1953 nach Westberlin bzw. 1959 nach Westdeutschland republikflüchtig wurde.
Weitere Untersuchungen der Ursachen sowie der näheren Zusammenhänge des gewaltsamen Grenzdurchbruchs werden durch das MfS geführt.