Fahnenflucht eines Offiziers des 1. Grenzbataillon Geismar
13. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 764/66 über die Fahnenflucht eines Offiziers des 1. Grenzbataillon Geismar, 1. Grenzregiment Mühlhausen
Am 9.10.1966 in der Zeit zwischen 8.00 und 13.00 Uhr wurde im Abschnitt der Grenzkompanie Hildebrandshausen, 1. Grenzregiment Mühlhausen, der Oberleutnant [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1936, wohnhaft [Ort], Kreis Mühlhausen, verheiratet, drei Kinder, NVA seit 15.5.1954, Stellvertretender PA1 der Grenzkompanie Hildebrandshausen, zurzeit ZBV beim I. Bataillon Geismar, SED seit 1958, nach Westdeutschland fahnenflüchtig.
Die bisher geführten Untersuchungen ergaben Folgendes:
[Name 1] war Politstellvertreter der Grenzkompanie Hildebrandshausen. Zurzeit war er jedoch als ZBV beim I. Bataillon Geismar eingesetzt, wo er auf seine künftige Tätigkeit als Kompaniechef vorbereitet werden sollte.
Am 7.10.1966 wurde [Name 1] beim Stab des Regiments mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze ausgezeichnet. Gegen 13.15 Uhr fuhr er mit vier ebenfalls ausgezeichneten Zugführern zum Stab des Bataillons Geismar. Im Bataillon erhielt [Name 1] vom Stabschef den Auftrag, bis zum 10.10.1966 in der 4. Grenzkompanie Hildebrandshausen als Kontrolloffizier die Maßnahmen zur erhöhten Einsatzbereitschaft zum 17. Geburtstag der DDR zu überprüfen.2 Diesen Dienst trat [Name 1] jedoch nicht an. Er fuhr vielmehr nach seinem Wohnort [Ort], wo er sich von 14.00 bis 18.00 Uhr in der Konsum-Gaststätte aufhielt und Alkohol zu sich nahm. Anschließend begab er sich in seine Wohnung in [Ort], wo er sich bis gegen 20.00 Uhr aufhielt. Gegen 20.00 Uhr forderte er von der Kompanie Hildebrandshausen telefonisch ein Kfz an, um seinen Dienst in der Kompanie anzutreten. Der Kompaniechef Oberleutnant Weidensdörfer3 lehnte dies jedoch ab mit dem Bemerken, [Name 1] solle sich wegen seines angetrunkenen Zustandes erst ausnüchtern und danach zur Kompanie kommen. Unmittelbar danach verließ [Name 1] seine Wohnung mit dem Hinweis, zur Kompanie Hildebrandshausen zu gehen. [Name 1] begab sich jedoch erneut in die Konsumgaststätte Hildebrandshausen, wo er weiter zechte. In diesem Lokal übernachtete er auch. Am 8.10.1966, gegen 11.00 Uhr, bemerkte der Kompanieschreiber der 4. Grenzkompanie Hildebrandshausen im Lokal die Anwesenheit des [Name 1]. Kurz danach verließ er die Gaststätte. Am 8.10.[1966] gegen 14.00 Uhr stellte der Stabschef des I. Bataillons, Major Feder,4 fest, dass sich [Name 1] entgegen dem Befehl nicht in der 4. Grenzkompanie befand. Major Feder leitete daraufhin Suchmaßnahmen ein, in deren Ergebnis [Name 1] im FDJ-Zimmer Hildebrandshausen schlafend angetroffen wurde. [Name 1] wurde mit zur Kompanie genommen, wo er durch einen Offizier des Stabes des I. Bataillon abgeholt wurde. Im Bataillon-Stab erhielt [Name 1] die Weisung, sich auszuschlafen und das Objekt des Bataillons nicht zu verlassen. Gegen 16.30 Uhr wurde durch den Stabschef des I. Bataillon festgestellt, dass [Name 1] sich unerlaubt aus dem Objekt entfernt hatte. Bei der sofort eingeleiteten Suche wurde [Name 1] gegen 17.30 Uhr erneut in der Konsumgaststätte Hildebrandshausen aufgefunden und zum Bataillon-Stab zurückgebracht. Beim Stab wurde er zur Ausnüchterung im Zimmer des Bataillon Politstellvertreters untergebracht. Hauptmann Schreiber5 erhielt die Weisung, [Name 1] zu beobachten und ein erneutes Verlassen des Objektes zu verhindern. Gegen 19.45 Uhr verließ Hauptmann Schreiber das Zimmer, um sich eine Zeitung zu holen. Als er nach wenigen Minuten zurückkehrte, fand er das Fenster geöffnet vor, und [Name 1] hatte sich erneut unerlaubt entfernt. Daraufhin nahm Hauptmann Schreiber selbständig mittels Kfz die Suche nach [Name 1] auf, ohne über das erneute Vorkommnis Meldung zu erstatten. Gegen 24.00 Uhr stellte Hauptmann Schreiber den [Name 1] erneut in der Konsumgaststätte Hildebrandshausen. Er forderte ihn auf, mit zum Bataillon zu kommen. [Name 1] kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach, sondern verließ durch die Küche fluchtartig das Lokal. Hauptmann Schreiber setzte daraufhin selbständig die Suche nach [Name 1] fort. Am 9.10.1966, gegen 1.00 Uhr, konnte er ihn im Obergeschoss der Gaststätte erneut stellen. Nach der Aufforderung, mit zum Bataillon-Stab zu kommen, folgte [Name 1] zunächst. Nach Verlassen des Hauses entwich er jedoch wiederum durch den Garten der Gaststätte. Danach gab Hauptmann Schreiber die Suche nach dem Flüchtigen auf, ohne Meldung über das Vorkommnis zu erstatten.
Nach Aussagen der Gaststättenleiterin [Name 2], versuchte [Name 1] am 9.10., gegen 7.30 Uhr, wiederum Einlass in das Lokal zu erhalten. Da ihm der Eintritt verweigert wurde, verließ er das Haus, ohne dass er in der Folgezeit wieder gesehen wurde.
Wie die bisherigen Untersuchungen ergaben, war es [Name 1] möglich, mehrmals zu entweichen, weil sein Verhalten als einfache Trunkenheit eingeschätzt wurde, ohne dabei die möglichen Folgen zu beachten. Die Vorgesetzten und die an den Such- bzw. Sicherungsmaßnahmen beteiligten Offiziere des Bataillons gingen dabei vom bisherigen positiven Verhalten des [Name 1] aus und hielten eventuelle Fahnenfluchtabsichten für unmöglich. Durch die versöhnlerische Haltung der Offiziere des Bataillons und zur Vermeidung »negativer Auswirkungen auf den Ruf des Bataillons« beim Regiment bzw. bei der Brigade wurden entsprechende Meldungen an die Vorgesetzten unterlassen und damit die Durchführung der Fahnenflucht begünstigt. Offensichtlich schätzte [Name 1] auch ein, dass aufgrund seines guten persönlichen Verhältnisses zur Leitung des Bataillons keine ernsthaften Maßnahmen gegen ihn eingeleitet würden.
Zur Person des [Name 1]
[Name 1] besuchte die Grundschule und erlernte von 1950 bis 53 den Beruf eines Möbeltischlers. Er ist seit 15.5.54 Angehöriger der NVA-Grenze und entwickelte sich vom Posten-, Gruppen-, Zugführer bis zum Politstellvertreter der Grenzkompanie Hildebrandshausen. Er besuchte 1960 und 1962 Offizierslehrgänge und absolvierte 1965 die Offiziersschule Plauen. 1966 nahm er an einem Lehrgang für Politoffiziere an der Lehranstalt Naumburg teil.
Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit in den bereits genannten Dienststellungen erwarb er sich umfangreiche fachliche, politische und Grenzdienstkenntnisse. In sämtlichen Beurteilungen und Attestierungen wurde er als selbständig arbeitender Politoffizier mit sehr guten Qualifikationen eingeschätzt, der in der Lage ist, die politisch-ideologische Erziehungsarbeit in einer Grenzkompanie mit Erfolg durchzuführen. Neben mehreren Belobigungen erhielt er 1965 die Medaille für vorbildlichen Grenzdienst und am 7.10.[1966] die Verdienstmedaille der NVA in Bronze. Im Regiment galt er als fähigster Politoffizier auf Kompanieebene. Sein bisheriges Auftreten in der Öffentlichkeit im Standortbereich brachte ihm hohes Ansehen bei der Bevölkerung ein. Charakteristisch war er sehr impulsiv, besonders dann, wenn nicht alles nach seinem Willen und nach seinen Vorstellungen ging. 1963/64 erhielt er eine Parteistrafe (Rüge) wegen Schädigen des Ansehens der NVA unter Alkoholeinfluss in zwei Fällen.
Die Ehefrau ist DFD-Mitglied und gehört der Gemeindevertretung an. Sie ist konfessionell katholisch gebunden und wird dementsprechend durch ihre Mutter und weitere in [Ort] wohnende Verwandte beeinflusst. Nach den Aussagen der Ehefrau sei die Ehe bisher geordnet verlaufen. Durch die Untersuchungen wurde jedoch bekannt, dass [Name 1] aufgrund der langjährigen Verbindung zur Gastwirtsfamilie [Name 2] ein freundschaftliches, vermutlich intimes Verhältnis zu der Frau [Name 2] unterhielt und dieser am 9.10.[1966], 7.30 Uhr, den Vorschlag unterbreitete, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, um mit ihm die Ehe einzugehen. Die [Name 2] lehnte dieses Ansinnen jedoch ab, erklärte sich aber bereit, das Freundschaftsverhältnis weiter aufrechtzuerhalten.
Durch das MfS werden weitere Untersuchungen über die Ursachen und Motive sowie die näheren Umstände und Zusammenhänge der Fahnenflucht geführt.