Direkt zum Seiteninhalt springen

Fahnenflucht mit tödlichem Ende bei Nettgau

23. August 1966
Einzelinformation Nr. 627/66 über eine verhinderte Fahnenflucht im Bereich der Grenzkompanie Nettgau, GR Beetzendorf, am 19.8.1966 mit tödlichem Ausgang für den Deserteur

In der Zeit vom 18.8.1966, 18.00 Uhr, bis 19.8.1966, 1.00 Uhr, befanden sich Unteroffizier Reinhardt, Ernst,1 geboren 15.1.1945, wohnhaft gewesen Schönebeck/Elbe, [Straße, Nr.], NVA seit 5.5.1964, Waffen-Unteroffizier in der Kompanie Nettgau und Feldwebel [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1943, wohnhaft Oschatz, [Straße, Nr.], NVA seit 1.8.1961, Hundestaffelführer der Kompanie Nettgau, mit fünf weiteren Soldaten der Kompanie Nettgau im Ausgang in der Gaststätte »Schenkenmühle« in Abbendorf, [Kreis] Salzwedel, wo sie in starkem Maße alkoholische Getränke zu sich nahmen. (Nach Aussagen des Feldwebel [Name 1] haben sie je Person ca. 14 Glas Bier und drei Weinbrand zu sich genommen. Da sie zwischenzeitlich gegessen und Kaffee getrunken hätten, seien sie zwar im angeheiterten Zustand, jedoch nicht volltrunken gewesen.) Gegen 0.30 Uhr fuhren sie gemeinsam zur Kompanie zurück. Nach eigenen Aussagen will [Name 1] bereits auf der Rückfahrt von dem hinter ihm sitzenden Reinhardt angestoßen worden sein, woraus er, ohne dass es zu einem Gespräch gekommen sei, entnahm, dass dieser ein Anliegen an ihn hat. Beim Verlassen des Lkw im Objekt sei er dann von Reinhardt sinngemäß mit den Worten angesprochen worden, »komm, wir hauen ab!« [Name 1] entnahm daraus, dass Reinhardt gemeinsam mit ihm fahnenflüchtig werden wollte.

Angeblich mit dem Ziel, erst die wahren Absichten des Reinhardt zu erforschen und unwiderlegbare Beweise für dessen Vorhaben zu schaffen sowie die Fahnenflucht selbständig zu unterbinden, hätte er sich zur gemeinschaftlichen Durchführung der Fahnenflucht bereit erklärt. Aus den vorgenannten Gründen will er sich zu diesem Zeitpunkt auch entschlossen haben, über die ihn bekannt gewordenen Absichten des Reinhardt seinen Vorgesetzten keine Meldung zu erstatten.

Nach Betreten des Objektes wurde [Name 1] angeblich von Reinhardt aufgefordert, in sein Zimmer zu gehen und auf ihn zu warten, da er zur Durchführung des Vorhabens noch Pistolen beschaffen wolle. Während [Name 1] in sein Zimmer ging, begab sich Reinhardt zum Unteroffizier vom Dienst, Gefreiten [Name 2]. Von diesem forderte Unteroffizier Reinhardt die Waffenkammerschlüssel mit der Begründung, er habe von Oberleutnant Block2 den Befehl erhalten, den Bestand der Leucht- und Platzmunition, die Signalgeräte und die Einsatzfähigkeit des Nachtsichtgerätes zu überprüfen. Ohne sich von der Richtigkeit des Befehls zu überzeugen, händigte Gefreiter [Name 2] die Schlüssel aus, begab sich gemeinsam mit Reinhardt zur Waffenkammer und unterstützte diesen zunächst bei der vorgetäuschten Überprüfung.

Währenddessen kam es jedoch in der Küche des Objektes zu einer Auseinandersetzung zwischen der Küchenfrau und einem Unteroffizier, so dass Gefreiter [Name 2] für einige Minuten den Waffenraum verließ, um den Streit in der Küche zu schlichten. Diese Zeit nutzte Reinhardt offensichtlich dazu aus, um zwei Pistolen »Makarow«, vier Magazine und 76 Schuss Pistolenmunition zu entwenden. Noch bevor Gefreiter [Name 2] zurückkehrte, verließ Reinhardt die Waffenkammer, verschloss diese und gab den Waffenkammerschlüssel zurück. Den Schlüssel des Panzerschrankes der Waffenkammer behielt er mit der Begründung, dieser würde in der Nacht vom Gefreiten [Name 2] nicht mehr benötigt werden.

Feldwebel [Name 1] hatte inzwischen die Hausposten vor dem Objekt aufgesucht und ihnen erklärt, er müsse mit Reinhardt noch einmal weg. Sie möchten beide durchlassen und brauchten keine Angst zu haben, da beide bald wiederkommen würden. Hinsichtlich dieser Handlungsweise bringt [Name 1] ebenfalls zum Ausdruck, sein Ziel hätte darin bestanden, gemeinsam mit Reinhardt das Objekt verlassen zu können, um entsprechende Beweise für dessen Fahnenfluchtabsicht zu sammeln und ihn später an der Durchführung des Grenzdurchbruchs zu hindern.

Auf dem Flur des Objekts traf [Name 1] den Reinhardt wieder. Dort hätten sie sich in eine Toilette eingeschlossen, wo Reinhardt den [Name 1] eine der entwendeten Pistolen, zwei Magazine und 23 Patronen übergeben habe. Nach Aufforderung des Reinhardts füllten beide die Magazine und luden die Waffen durch. Angeblich ohne weitere Unterhaltung über die Annäherung an die Staatsgrenze, den Ort des beabsichtigten Grenzdurchbruchs sowie das Verhalten dabei, haben beide gegen 2.00 Uhr das Objekt verlassen und sich in Richtung Staatsgrenze begeben. [Name 1] will Reinhardt in einem Abstand von 5 bis 6 m gefolgt sein.

Nachdem Reinhardt und [Name 1] das Objekt bereits verlassen hatten, wurde durch die Hausposten die unerlaubte Entfernung bemerkt und der Führungspunkt der Kompanie benachrichtigt sowie Grenzalarm ausgelöst. (Entsprechende Untersuchungen über das Verhalten der Hausposten werden noch geführt.)

Der Schein der Leuchtkugeln, mit denen Grenzalarm ausgelöst wurde, ist nach den Aussagen von [Name 1] auch von Reinhardt wahrgenommen worden. Er sei daraufhin im Laufschritt etwa 40 m die Straße Nettgau – Gladdenbach entlanggelaufen. Nach Verlassen der Straße hätten sie zwei Koppelzäune überstiegen. Plötzlich habe [Name 1] gesehen, wie Reinhardt einen unmittelbar vor dem 6-m-Kontrollstreifen befindlichen Graben überspringen wollte. Daraufhin will [Name 1] zwei bis drei Schuss auf den gerade im Sprung befindlichen Reinhardt abgefeuert haben. Dieser soll vom Kontrollstreifen aus ebenfalls einen Schuss auf [Name 1] abgegeben haben. Gleichzeitig habe er gerufen: »[Vorname], du Schwein!« (Nach entsprechenden Überprüfungen ist aus der Waffe des Reinhardt tatsächlich ein Schuss abgegeben worden.) [Name 1] will daraufhin in Deckung gegangen sein, wobei er, ohne sich jedoch konkret entsinnen zu können, möglicherweise zwei bis drei weitere Schüsse auf Reinhardt abgab. Anschließend sei er zurückgekrochen, wobei er mehrere Schüsse in der Luft abgab und nach den Posten rief. [Name 1] und die inzwischen eingetroffenen Posten begaben sich anschließend zur Staatsgrenze, wo sie den durch sechs Schüsse tödlich getroffenen Reinhardt auf dem 6-m-Kontrollstreifen liegend vorfanden. Nach dem vorliegenden gerichtsmedizinischen Gutachten ist Reinhardt durch fünf Schüsse in die vorderen Körperpartien und einen Schuss in den Rücken getötet worden.

Wie durch die jetzt geführten Untersuchungen bekannt wurde, habe Reinhardt bereits am 30.7.1966 beabsichtigt, fahnenflüchtig zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich im Hause seiner Verlobten in Gladdenstedt, [Kreis] Klötze,3 unmittelbar an der Staatsgrenze, auf. Nach einer Auseinandersetzung mit seiner Verlobten verließ er das Haus, bewegte sich über den Hof in Richtung Grenzsperre, wo er ein an der Hofgasse befindliches Signalgerät entlud. Durch die Verlobte und deren Mutter wurde er jedoch an der weiteren Handlung und an der beabsichtigten Fahnenflucht gehindert.

Reinhardt entstammt einer Arbeiterfamilie. Nach der Grundschule erlernte er den Beruf eines Drehers. Er arbeitete zunächst im Traktorenwerk Schönebeck/Elbe und anschließend in einer LPG in Osterburg. Im Mai 1964 wurde er zur NVA/Grenze einberufen, er besuchte einen Unteroffiziers-Lehrgang und war in der Folgezeit als Waffenfunktionsunteroffizier in der Kompanie Nettgau eingesetzt. Reinhardt versah seinen Dienst lustlos und gab wegen Trunkenheit wiederholt Anlass zur Beschwerde. Im Februar 1966 wurde er mit fünf Tagen Arrest bestraft, nachdem er in angetrunkenen Zustand seinen Vorgesetzten mit der Pistole bedroht hatte, um sich unerlaubt Ausgang zu verschaffen.

[Name 1] ist der Sohn eines Angestellten. Sein Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Nach dem Besuch der Grundschule erlernte er in der Fleischer-PGH Oschatz den Beruf eines Fleischers. Nach seiner Lehre wurde er Angehöriger der NVA/Grenze. Zuletzt war er in der Kompanie Nettgau als Feldwebel und Hundestaffelführer eingesetzt. Er leistete bisher einen guten Grenzdienst, neigte aber zu kumpelhaften Verhalten. Obwohl er seit 1964 Mitglied der SED ist, trat er bisher politisch wenig in Erscheinung.

Durch das MfS werden weitere Untersuchungen zur Ermittlung der Ursachen und der näheren Zusammenhänge der verhinderten Fahnenflucht – besonders des Verhaltens des Feldwebel [Name 1] – geführt.

  1. Zum nächsten Dokument Fahnenflucht eines Offiziers der Grenzkompanie Berka

    26. August 1966
    Einzelinformation Nr. 632/66 über die Fahnenflucht eines Offiziers der Grenzkompanie Berka, GR Eisenach am 23.8.1966

  2. Zum vorherigen Dokument Fluchtversuch mit tödlichem Ende im Raum Morsleben

    22. August 1966
    Einzelinformation Nr. 626/66 über einen verhinderten Grenzdurchbruch im Raum Morsleben, GR Oschersleben, am 18.8.1966 mit tödlichem Ausgang für einen der Grenzverletzter