Fahnenflucht mit tödlichem Ende in Berlin-Johannisthal
27. April 1966
Einzelinformation Nr. 327/66 über eine verhinderte Fahnenflucht mit tödlichem Ausgang im Abschnitt Berlin-Johannisthal, Wredebrücke am 25.4.1966
Am 25.4.1966 gegen 3.53 Uhr wurde durch das auf dem B-Turm1 Wredebrücke stationierte Postenpaar festgestellt, dass das Signal im 4. Feld des Signalzaunes in Richtung »Alte Naht« ausgelöst wurde. Daraufhin wurde durch die Posten das Signal »Offizier zur Grenze« geschossen. Durch den in der Nähe auf Kontrollstreife befindlichen Gruppenführer und seinen Begleitposten wurde sofort die Beobachtung und Überprüfung organisiert. Dabei stellten sie eine Person fest, die sich mit schnellen Sprüngen durch die Vorsperre in Richtung der pioniertechnischen Anlagen bewegte. Von allen vier Posten wurde sofort gezieltes Feuer eröffnet. Der Grenzverletzer reagierte jedoch nicht darauf und näherte sich kriechend dem Kontrollstreifen. Unter Fortführung des gezielten Feuers arbeiteten sich die Posten näher an die Durchbruchstelle heran und erreichten, dass der Grenzverletzer an der weiteren Flucht gehindert wurde und unbeweglich liegen blieb. (Insgesamt wurden 109 Schuss abgegeben.)
Bei der weiteren Annäherung stellten die Posten fest, dass es sich bei dem Grenzverletzer um einen NVA-Angehörigen handelt, der durch Kopf- und Wadenschuss schwer verletzt war. Durch den Gruppenführer wurde der Verletzte in den Kfz-Fanggraben gebracht; von dort aus wurde er mittels Sankra2 in das VP-Krankenhaus transportiert.
Bei dem Verletzten handelt es sich um den Kanonier Kollender, Michael,3 geboren 19.2.1945, wohnhaft Oberlungwitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, [Straße, Nr.], NVA seit 2.11.1965, III. Abteilung, Flak-Raketen-Regiment 16, 1. LVD, ledig.
Kollender war bei der Festnahme im Besitz einer durchgeladenen MPi mit 15 Schuss Munition. Nach bisherigen Feststellungen ist aus der MPi der Grenzverletzers nicht geschossen worden. Kollender ist am 25.4.1966 gegen 6.00 Uhr an den Folgen seiner Verletzung verstorben.
Während der Schusswaffenanwendung und der Bergung des Kollender in den Kfz-Fanggraben wurden auf Westberliner Seite keine Handlungen festgestellt. Erst der Abtransport des Grenzverletzers mittels Sankra wurde von drei Westberliner Polizeiangehörigen von der Krananlage des Eternit-Werkes aus beobachtet. Zu irgendwelchen Handlungen kam es dabei nicht.
Durch die bisherigen Untersuchungen wurde Folgendes bekannt:
Kanonier Kollender gehörte seit dem 21.4.1966 zum Vorkommando der Paradeeinheit des 16. Flak-Raketen-Regiments anlässlich der Parade am 1. Mai (acht NVA-Angehörige), die im Wachregiment des MfS stationiert ist. Offensichtlich verließ er gegen 3.00 Uhr während des Postendienstes seinen Postenbereich an den Garagen, in denen die Kampftechnik des 16. Flak-Raketen-Regiments abgestellt ist und begab sich, nach Überwinden der Objektumzäunung, über den alten Flugplatz Johannisthal in Richtung Staatsgrenze.
Zur Person:
Kollender war vor seiner Einberufung als Kraftfahrer tätig. Während seiner bisherigen Dienstzeit verhielt er sich äußerst undiszipliniert, diskutierte über Befehle und verrichtete seinen Dienst nur widerwillig. Gegenüber dem Kollektiv verhielt er sich arrogant, unkameradschaftlich und zeigte ein starkes Geltungsbedürfnis. Wegen Wachvergehen, Angriff auf Vorgesetzte und unerlaubter Entfernung wurde er mit je drei Tagen Arrest bestraft. Ein direktes politisches negatives Verhalten war jedoch nicht festzustellen.
Kollender wurde streng gläubig erzogen. Die Eltern sind streng katholisch und gehören der CDU an. Der katholische Kaplan besucht die Familie Kollender wöchentlich mindestens einmal in ihrer Wohnung. Beide Elternteile sind seit 1959 Mitglied der LPG Typ III4 und verrichten eine gute Arbeit. Weder die Eltern noch Kollender, Michael sind am Wohnort negativ in Erscheinung getreten.
Durch das MfS werden die Untersuchungen zur Ermittlung der Ursachen und der näheren Zusammenhänge der verhinderten Fahnenflucht weitergeführt.