Fahnenflucht Nahe Waddekath
[ohne Datum]
Einzelinformation Nr. 688/66 über eine Fahnenflucht mit Schleusung von vier weiteren DDR-Bürgern im Bereich der Grenzkompanie Waddekath, Grenzregiment Beetzendorf, am 11.9.1966
Am 11.9.1966 gegen 7.00 Uhr wurde im Abschnitt der Grenzkompanie Waddekath, Grenzregiment Beetzendorf, Gefreiter [Name 1, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Seehausen, [Straße, Nr.]1, NVA seit 3.5.1965, Kraftfahrer in der Kompanie Waddekath, unter Mitnahme seiner MPi nach Westdeutschland fahnenflüchtig.
Bei seiner Fahnenflucht schleuste er gleichzeitig seine Ehefrau [Name 1, Vorname 2], geborene [Name 2], geboren [Tag, Monat] 1947, wohnhaft Seehausen, [Straße, Nr.], seinen Sohn [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1964, seinen Bruder [Name 1, Vorname 3], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Wahrenberg, [Kreis] Osterburg und dessen Freund [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Wahrenberg, [Kreis] Osterburg, nach Westdeutschland.
Die bisherigen Untersuchungen des schweren Grenzdurchbruchs ergaben Folgendes:
Gefreiter [Name 1] war in den frühen Morgenstunden des 11.9.1966 mit dem Lkw LO – 1800 zu einer Fahrt zum Bahnhof Diesdorf eingesetzt. Nach seiner Rückkehr gegen 4.20 Uhr begab er sich zum Gehilfen des Unteroffizieres vom Dienst, Gefreiter [Name 4], von dem er seine MPi mit der Begründung verlangte, dass er vom Offizier für Grenzsicherung zu Arbeiten im Grenzgebiet eingesetzt worden sei. (Zum gleichen Zeitpunkt wurden drei Soldaten geweckt, die im Auftrage des Offiziers für Grenzsicherung im Grenzgebiet Holz schlagen sollten.)
Obwohl der Offizier für Grenzsicherung im Objekt anwesend war, wurde durch den Gehilfen des Unteroffiziers vom Dienst keine Rückfrage gehalten und dem [Name 1], in der Annahme, dass er mit zum Holzkommando gehöre, die Waffe ohne Bedenken ausgehändigt.
Gegen 6.10 Uhr erschien Gefreiter [Name 1] in der Wache, wo er mit dem Unteroffizier vom Dienst eine kurze Unterhaltung führte. (Der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst war nicht anwesend, sondern anderweitig dienstlich unterwegs.) Dem Unteroffizier vom Dienst erklärte [Name 1], dass er auf der Fahrt zum Bahnhof Diesdorf den Entgiftungssatz des Fahrzeuges verloren hätte, den er suchen wolle.1 Der Unteroffizier vom Dienst überzeugte sich vom Fehlen des Entgiftungssatzes und gestattete die Ausfahrt des [Name 1].
[Name 1] fuhr auch tatsächlich nach Diesdorf, wo er die vorerwähnten Zivilpersonen abholte, mit denen er anschließend die Grenze durchbrach. Die vier Zivilpersonen waren mit dem Pkw »Opel« des [Name 3] von Wahrenberg nach Diesdorf gekommen, wo sie auf den Lkw überwechselten. Anschließend fuhr [Name 1] mit dem Lkw durch das Grenzgebiet bis zur Gasse am Ohrdorfer Sack.2
Gegen 6.45 Uhr beobachtete die Kontrollstreife des Unteroffiziers Hahn,3 wie der Lkw mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Grenze fuhr. Hahn beachtete diesen Vorgang jedoch nicht näher, da [Name 1] allein im Fahrerhaus saß und er der Annahme war, [Name 1] habe dienstlich im Grenzgebiet zu tun. (Die Zivilpersonen waren auf der Ladefläche des Lkw untergebracht; die Wagenplane war geschlossen.)
An der Gasse am Ohrdorfer Sack wurde der Lkw unmittelbar an den Grenzsicherungsanlagen abgestellt. Von den Grenzverletzern wurden die Torschlösser der Drahtsperre mittels Drahtschere herausgeschnitten und die Minengasse nach Westdeutschland überquert.
Durch die in der Zwischenzeit erfolgte Ablösung des Unteroffiziers vom Dienst und seines Gehilfen (7.00 Uhr) und die große Unordnung insgesamt in der Kompanie, wurde die Fahnenflucht erst gegen 11.00 Uhr bemerkt, als [Name 1] zur Postenablösung fahren sollte und im Kompanieobjekt nicht aufzufinden war.
Der Grenzdurchbruch wurde durch die im Abschnitt eingesetzten Posten nicht bemerkt. Die nächsten Posten befanden sich ca. 300 m bzw. 400 m von der Durchbruchsstelle entfernt. Der Lkw wurde ebenfalls erst nach Auslösung der Suchmaßnahmen aufgefunden, obwohl er in der Zeit von 7.00 bis 11.00 Uhr unmittelbar an der Staatsgrenze stand.
Begünstigt wurde die Fahnenflucht vor allem durch die in der Kompanie vorhandenen groben Mängel in der militärischen Disziplin und Ordnung. Die Fahrzeuge wurden oftmals eigenmächtig und ohne Genehmigung durch die Vorgesetzten benutzt. Derartige Fahrten wurden als »Gewohnheitsrecht« betrachtet. Die Kontroll- und Aufsichtspflicht durch die Vorgesetzten wurde stark vernachlässigt.
Weitere Untersuchungen zur Ermittlung der Motive, der näheren Umstände und Zusammenhänge der Fahnenflucht mit Schleusung werden durch das MfS geführt.