Flucht eines Unteroffiziers&Zivilisten bei Heiligenstadt
30. Juni 1966
Einzelinformation Nr. 486/66 über einen bewaffneten Grenzdurchbruch DDR – West im Abschnitt des Grenzregiments IV/9. GB – zwischen den Ortschaften Rohrberg und Freienhagen, [Kreis] Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt – am 26.6.1966
Am 26.6.1966 gegen 8.50 Uhr bemerkten die Posten des Grenzregiments IV/9. GB zwei unbekannte männliche Personen, die sich kriechend der Staatsgrenze West näherten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich ca. 30 Meter von der Staatsgrenze entfernt; die Entfernung der Posten zu den Grenzverletzern betrug ca. 400 Meter.
Die Posten der NVA/Grenze eröffneten sofort das Feuer auf die Grenzverletzter. Daraufhin wurden von einem der Grenzverletzter die Posten der NVA/Grenze aus einer MPi beschossen.
Unter Ausnutzung dieser Feuerführung auf die Posten gelang es den Grenzverletzern, die pioniertechnischen Anlagen an der Staatsgrenze zu überwinden und nach Westdeutschland zu entkommen. Die Posten der NVA/Grenze gaben insgesamt 29 Schuss ab; die Grenzverletzer nach den aufgefundenen Geschosshülsen 13 Schuss.
Die sofort eingeleiteten Untersuchungen über den Grenzdurchbruch ergaben, dass es sich bei den Grenzverletzern um den Unteroffizier [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Sondershausen, [Straße, Nr.], NVA seit 5.5.1964, 23. MSR – Kfz-Gruppenführer in der Transportkompanie, parteilos, verheiratet, zwei Kinder und [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Sondershausen, [Straße, Nr.], Kellner im HO-Kreisbetrieb Sondershausen, handelte. Die genannten Personen hatten den Weg von Sondershausen bis nach Heiligenstadt mit dem Motorrad des [Name 1], »MZ« LV 51 – 97, und die letzten zehn km bis zur Durchbruchsstelle zu Fuß zurückgelegt. (Das Motorrad war am Ortseingang von Heiligenstadt abgestellt worden.)
Nach weiteren Feststellungen hat der Unteroffizier [Name 1] am 25.6.1966 in der Zeit zwischen 22.00 und 22.30 Uhr die Waffenkammer der 11. Panzerkompanie des 23. MSR aufgebrochen und zwei MPi Kalaschnikow KmS 1636 und 1962 mit zehn leeren Stangenmagazinen gestohlen. Der Diebstahl wurde dadurch begünstigt, dass sich die Waffenkammer aus Raummangel nicht im Kompaniebereich befand, die Gittertür nicht entsprechend den Vorschriften angebracht war, die Waffenkammertür nicht mit einem Sicherheitsschloss versehen und die Alarmanlage defekt war. (Die Waffenkammer war ursprünglich in einem separaten Flur untergebracht und nur über eine vorschriftsmäßig gesicherte Tür – Gittertür mit Sicherheitsschluss und Alarmanlage – erreichbar. Vor ca. drei Wochen war in einem zweiten Zimmer dieses Flures eine Bekleidungskammer eingerichtet und damit die Sicherung der Flurtür aufgehoben worden. Vor der Waffenkammertür wurde eine Gittertür angebracht, die den Vorschriften widersprach und deshalb ohne größere Schwierigkeiten durch [Name 1] entfernt werden konnte.) Trotz des Bekanntseins dieser Mängel waren seitens der NVA keine Maßnahmen zur Veränderung dieser Situation eingeleitet worden.
Die Munition für die MPis hat [Name 1] offensichtlich in der Zeit vom 11.6. bis 20.6.1966 während einer Munitionslagerung von einem Lkw im Munitionslager Berka entwendet. Das Fehlen dieser Munition wurde erst im Verlaufe der Untersuchung dieses Vorkommnisses festgestellt. Danach fehlt von einem Lkw im Munitionslager Berka eine Kiste mit 1360 Schuss MPi-Munition. Durch das nachlässige Verhalten des Offiziers für Munition des 23. MSR, Hauptmann Müller,1 wurde keine ordnungsgemäße Überprüfung und Verplombung nach der Umlagerung durchgeführt. [Name 1] war es im Zusammenhang mit den von ihm im Munitionslager zu verrichteten Arbeiten möglich, unter Ausnutzung der mangelnden Ordnung mehrmals mit dem Privatkrad2 in die technische Zone des Munitionslagers zu gelangen. Bei der Durchsuchung der Wohnung des [Name 2] wurden 940 Schuss MPi-Munition sichergestellt sowie leere Pappschachteln für 300 Schuss vorgefunden.
Über [Name 1] ist bekannt, dass er 1961 wegen versuchtem Grenzdurchbruch zu sechs Monaten Gefängnis mit zweijähriger Bewährung verurteilt wurde. In seiner Dienstdurchführung wird er als unzuverlässig und undiszipliniert eingeschätzt. Gegenwärtig lief gegen ihn ein E-Verfahren des Militärstaatsanwalts wegen Benzindiebstal. Die Eheverhältnisse des [Name 1] sind zerrüttet; es bestanden Absichten, die Ehe zu scheiden. Obgleich der Leitung des 23. MSR diese Umstände bekannt waren und die Ehefrau des [Name 1] bereits am 26.6.1966 um 7.00 Uhr den Kompanie-Chef der Transportkompanie davon in Kenntnis setzte, dass ihr Ehemann verschwunden sei, wurden weder das VPKA Sondershausen noch die NVA-Grenze davon verständigt. Die Leitung des 23. MSR leitete erst dann Maßnahmen ein, als die Meldung über das aufgefundene Motorrad einging. Der Verlust der Waffen wurde erst gegen 12.00 Uhr festgestellt.
Der Kellner [Name 2] war als Angestellter der HO in der Zeit von März bis Mai 1966 in der HO-Gaststätte der Dienststelle des 23. MSR eingesetzt. Aus dieser Zeit stammt offensichtlich die Bekanntschaft zwischen [Name 1] und [Name 2]. Über seine Pflegeeltern besaß [Name 2] umfangreiche Westverbindungen, so u. a. auch zu dem republikflüchtigen Stiefbruder, mit dem er sich während des letzten Passierscheinabkommens3 in Berlin getroffen hat. Aufgrund seiner mangelnden Arbeitsdisziplin bestand seitens des HO-Kreisbetriebes die Absicht, dem [Name 2] zu kündigen.
Vom MfS werden weitere Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen und Motive sowie der begünstigenden Bedingungen der Fahnenflucht und des Grenzdurchbruchs geführt. Besonderes Schwergewicht wird dabei auf die Aufklärung der Mängel und Missstände in der Absicherung der Waffen und Munition mit dem Ziel einer sofortigen Veränderung gelegt.