Flucht über den Jungfernsee bei Potsdam
18. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 775/66 über die Fahnenflucht eines Angehörigen der NVA-Bootskompanie des 48. GR mit Schleusung von weiteren drei Zivilpersonen nach Westberlin am 14.10.1966
Am 14.10.1966, in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.45 Uhr, wurde im Abschnitt Neuer Garten/Berliner Vorstadt, [Kreis] Potsdam, ca. 30 m nördlich des Hasengrabens (Verbindung zwischen Heiligen- und Jungfernsee) der Matrose [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Staßfurt, [Straße, Nr.], NVA seit 3.11.1965, Posten der Bootskompanie des 48. GR, 4. Grenzbrigade während seines Stadtausganges nach Westberlin fahnenflüchtig. Gleichzeitig schleuste er die Zivilpersonen [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1948, wohnhaft Staßfurt, [Straße, Nr.]; [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Staßfurt, [Straße, Nr.] und [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Staßfurt, [Straße Nr.], mit nach Westberlin.
[Name 1] ist mit den drei anderen Grenzverletzern von seinem Heimatort her bekannt. Sie standen untereinander in Briefverbindung und unterhielten ein enges Freundschaftsverhältnis.
Die genannten Jugendlichen kamen bereits am 13.10.1966 nach Potsdam, wo sie versuchten mit [Name 1] in Verbindung zu treten. Da [Name 1] jedoch Hausposten hatte, verabredeten sie sich für den 14.10.[1966]. Die Nacht vom 13. zum 14.10.[1966] verbrachten die Zivilpersonen im Hotel in der Behlertstraße in Potsdam. Am 14.10.[1966] trafen sie sich mit [Name 1], wobei sie letztmalig gegen 20.00 Uhr gemeinsam im Vergnügungspark in Potsdam gesehen wurden. Gegen 20.45 Uhr stellte eine Kontrollstreife im Abschnitt Badeturm-Hasengraben am Neuen Garten, [Kreis] Potsdam einen schweren Grenzdurchbruch von insgesamt vier Personen fest. Unmittelbar am Kontrollstreifen am Ufer des Jungfernsees wurden zwei Mäntel, drei Jacken sowie eine Aktentasche mit Zeitungen, Pullover und diversen Dokumenten aufgefunden.
Die Annäherung der Grenzverletzter in das Gebiet der Staatsgrenze der DDR erfolgte vermutlich aus der Berliner Vorstadt der Stadt Potsdam, über die Seestraße bis Hasengraben und dann weiter über das Gelände des Neuen Garten bis zur Staatsgrenze. Das Grenzgebiet wird feindwärts ca. 30 bis 40 m vom Ufer durch einen Drahtzaun und Signalgeräte abgesichert. Unmittelbar am Ufer des Jungfernsees befindet sich ein Drahtzaun auf drei Pfahlreihen.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass im genannten Grenzabschnitt ein Signalgerät, vermutlich von [Name 1], ausgebaut und die Sicherungszäune durch die Grenzverletzer überstiegen wurden. Der südöstlich eingesetzte Grenzposten befand sich während der Zeit des Grenzdurchbruchs ca. 600 bis 800 m von der Durchbruchstelle entfernt und konnte das genannte Gelände nicht einsehen.
Das auf dem Jungfernsee stationierte Grenzsicherungsboot befand sich zur Zeit des Grenzdurchbruchs laut vorgeschriebener Dienstplanung zur Ablösung im Hafen der Bootskompanie, so dass zu diesem Zeitpunkt die Staatsgrenze in diesem Abschnitt vom Wasser aus nicht gesichert wurde.
Begünstigend wirkte sich aus, dass [Name 1] aufgrund seines Einsatzes in diesem Abschnitt die Ablösungszeiten und den Posteneinsatz kannte. Er war bestätigt zum Einsatz für alle Richtungen im Grenzabschnitt.
Zur Person:
[Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie. Der Vater ist vom Beruf Schlosser und übt jetzt die Tätigkeit eines TAN-Sachbearbeiters1 aus. Die Mutter ist gelernte Schneiderin und zurzeit als Maschinenarbeiterin tätig. Beide sind Mitglied der SED und werden positiv beurteilt. [Name 1] besuchte die Grundschule bis zur 8. Klasse und erlernte anschließend den Beruf eines Schlossers. Seine letzte Arbeitsstelle war der VEB Kaliwerke Staßfurt.
Während seiner Lehrzeit zeigte er jedoch wenig Interesse für seinen Beruf, so dass wiederholt Aussprachen mit ihm im Beisein der Eltern erforderlich waren. [Name 1] wurde durch das Elternhaus sehr verwöhnt und erhielt jegliche Unterstützung. Seine Mitarbeit in der FDJ wurde als aktiv eingeschätzt. Während seiner Dienstzeit bei der Bootkompanie wurde er wegen guter Dienstdurchführung und Einsatzbereitschaft drei Mal belobigt. Es gab jedoch auch Tendenzen der Gleichgültigkeit in seiner Dienstdurchführung. Im Politunterricht zeigte er sich interessiert und versuchte, sich politische Grundkenntnisse anzueignen. Negative Äußerungen oder Hinweise auf Unzuverlässigkeit wurden bisher nicht bekannt. Westverbidnungen bestanden keine.
[Name 3, Vorname], versuchte bereits am 13.7.1962 und am 12.5.1965 illegal die DDR über die Staatsgrenze West zu verlassen. Er wurde jedoch beide Male gestellt und im Jahre 1962 zu fünf Monaten und 1965 zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt. Außerdem versuchte er im Rahmen einer Touristenreise über die VR Bulgarien die DDR illegal zu verlassen. Dieses Vorhaben wurde jedoch rechtzeitig erkannt und durch die Ablehnung der Reise verhindert. [Name 3] war nach seiner Haftentlassung am 11.5.1965 im Leuna-Werk, Werk I, Bau 377 als Montagearbeiter beschäftigt und fuhr jeweils über das Wochenende nach Staßfurt zu seiner Mutter. Seine fachliche Arbeit wird als gut eingeschätzt. Der leibliche Vater des [Name 3] lebt in Westdeutschland.
[Name 4, Vorname], war vom 10.2. bis 10.11.1959 Angehöriger der Deutschen Grenzpolizei. Am 17.1.1960 verließ er die DDR illegal über Westberlin. In Westdeutschland heiratete er. Seine Ehefrau und sein Kind leben in Westdeutschland und möchten nicht in die DDR übersiedeln. Am 13.12.1965 kehrte [Name 4] aus Westdeutschland in die DDR zurück, wo er seine Arbeit als Heizungsmonteur beim VEB Bau- und Montagekombinat Chemie Halle, Betriebsteil Bernburg, Oberbauleitung Ausbau Staßfurt, aufnahm. Seine fachliche Arbeit wird als gut eingeschätzt. Im Mai 1966 bewarb sich [Name 4] um einen Studienplatz. Er wurde aber auf ein Jahr zurückgestellt mit dem Bemerken, er solle sich in der Produktion bewähren.
[Name 2, Vorname], erhielt in seiner vorletzten Arbeitsstelle – PGH Bauschlosser Staßfurt2 – zwei Verweise wegen Arbeitsbummelei und unberechtigtem Benutzen eines Dienstmopeds. Seit September 1966 war er im VEB Schwermaschinenbau »Karl-Liebknecht« Magdeburg als Schweißer beschäftigt, wo er in seiner Arbeit und in seinem Verhalten keinen Anlass zu Beanstandungen gab. Der leibliche Vater des [Name 2] lebt in Dortmund. Die Mutter ist Mitglied der SED; der Stiefvater ist parteilos.
Weitere Untersuchungen über die Ursachen und Motive sowie die näheren Umstände und Zusammenhänge des schweren Grenzdurchbruchs werden durch das MfS geführt.