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Grenzdurchbruch in Staaken

4. Januar 1966
Einzelinformation Nr. 3/66 über einen Grenzdurchbruch im Bereich der 1. Kompanie/34. Grenzregiment/2. Grenzbrigade – [Berlin,] Ortsteil Staaken – am 1.1.1966

Am 1.1.1966 gegen 19.50 Uhr stellten die Grenzposten des B-Turmes1 Feldstraße (Bereich der 1. Kompanie des 34. GR), Ortsteil Staaken, in etwa 200 bis 250 m Entfernung die Annäherung einer weiblichen und einer männlichen Person an die Staatsgrenze nach Westberlin fest. Der Postenführer eröffnete sofort aus seiner MPi das Feuer, das dann von der Plattform des B-Turmes aus mittels MPi und LMG weitergeführt wurde. Nach Aussagen des Postenpaares konnten sie zu diesem Zeitpunkt die Grenzverletzer nicht mehr sehen. Sie richteten daher das Feuer auf den Standpunkt, wo sie die Personen zum letzten Mal erkannt hatten.

Die beiden Grenzverletzer lösten bei weiterer Annäherung an die pioniertechnischen Anlagen ein Signalgerät aus, wodurch der Gruppenkommandeur, der sich zu diesem Zeitpunkt auf dem GÜST Bahnhof Staaken aufhielt, alarmiert wurde. Er begab sich sofort zum B-Turm Feldstraße. Das eingesetzte Postenpaar begab sich dann zusammen mit dem Gruppenkommandeur zur Durchbruchstelle, wobei sie weiterhin kurze Feuerstöße abgaben. Die weitere Feuerführung erklären die Grenzposten damit, dass sie die in den pioniertechnischen Anlagen liegenden Sachen als Personen zu erkennen glaubten. Durch die Feuerführung der Grenzposten und des Gruppenkommandeurs wurden insgesamt 139 Schuss aus den MPi und dem LMG abgegeben, ohne jedoch den Grenzdurchbruch zu verhindern. Aufgrund des Schusswinkels und der Schussrichtung sind einige Feuerstöße in Richtung Westberliner Territorium abgegeben worden, wobei etwa acht bis neun Projektile in drei auf Westberliner Gebiet befindliche Wohnhäuser (Brunsbüttler Damm Nr. 359, 363 und Nennhauser Damm – Neubaublock –) eingeschlagen sind.

Die Prüfung der aufgefundenen Sachen und die weiteren Ermittlungen ergaben, dass dieser Grenzdurchbruch durch den Angehörigen der 1. Kompanie/34. GR Unteroffizier [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat], wohnhaft [Ort 1, Straße, Nr.], politisch organisiert FDJ, NVA seit 4.5.1965, Waffenunteroffizier der 1. Kompanie/34. GR und seine Verlobte [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1949, wohnhaft [Ort 2], [Kreis] Nauen, ohne Beruf und Arbeitsstelle, erfolgt ist.

Aus den bisherigen Ermittlungen ist zu entnehmen, dass die [Name 2] den Unteroffizier [Name 1] zur Fahnenflucht und zum gemeinsamen illegalen Verlassen der DDR veranlasst hat. Beide sind seit dem 10.12.1965 verlobt. Bei der [Name 2] handelt es sich um ein asoziales Element;2 sie ist in der Vergangenheit u. a. als HWG-Person3 in Erscheinung getreten. In der Nervenklinik [Ort 3] erfolgte durch ärztlichen Eingriff eine Schwangerschaftsunterbrechung. Ihre Mutter veranlasste die Einweisung in das Jugendheim [Ort 4] bei Rathenow, da die Tochter seit dem Besuch der achten Klasse bummelte, sich tagelang herumtrieb und mit anderen zweifelhaften Personen verkehrte.

Die [Name 2] beging in der Vergangenheit mehrere Gelddiebstähle im Verwandten- und Bekanntenkreis, weshalb zwei EV gegen sie eröffnet worden waren. Wegen eines weiteren Gelddiebstahls in Höhe von 130 MDN am 30.12.1965 bei einer Familie in [Ort 5] wurde sie vom ABV befragt. Sie erfuhr u. a., dass aufgrund der Straftaten ein Gerichtsverfahren stattfinden und anschließend die Einweisung in einen Jugendwerkhof erfolgen sollte.4

Aufgrund des bekannten Verhaltens der [Name 2] war Unteroffizier [Name 1] angeraten worden, die Verbindung zu ihr abzubrechen.

Begünstigend auf den Grenzdurchbruch wirkte sich auch das Verhalten des Kompaniechefs der 1. Kompanie Hauptmann Weghöfer5 und das Verhalten der Grenzposten im Abschnitt des 32. GR aus.

Am 1.1.1966 gegen 14.00 Uhr verständigte die [Name 2] den Kompaniechef Hauptmann Weghöfer, dass [Name 1] nicht zur Dienststelle zurückkehren könne, da er sich noch betrunken in ihrem Hause in [Ort 2] befinde. [Name 1] hatte erweiterten Ausgang vom 31.12.1965, 17.00 Uhr, bis 1.1.1966, 14.00 Uhr. Hauptmann Weghöfer leitete keine Maßnahmen ein, um den [Name 1] sofort abholen zu lassen. Eine Meldung an den Stab des GR erfolgte erst gegen 17.00 Uhr. Gegen 19.15 Uhr wurde ein Fahrzeug nach [Ort 2] geschickt, um den [Name 1] abzuholen. Die Mutter der [Name 2] erklärte, dass ihre Tochter mit dem [Name 1] gegen 17.15 Uhr das Haus verlassen hat.

Die Annäherung der Grenzverletzer an die Staatsgrenze erfolgte über den Grenzabschnitt des GR 32 – Kirchengelände Staaken, Hauptstraße – zu der in der Nähe des ehemaligen Pumpenwerkes Staaken6 liegenden Durchbruchstelle. Die Einschätzung des Anmarschweges lässt die Schlussfolgerung zu, dass das eingesetzte Postenpaar auf dem B-Turm »Sonne« (GR 32) die Grenzverletzer hätte unbedingt erkennen müssen und den Durchbruch verhindern können. Offensichtlich wurde jedoch von diesem Postenpaar die Wachsamkeit gröblichst vernachlässigt. (Entsprechende Untersuchungen werden noch geführt.)

Über den Fahnenflüchtigen lagen bisher, bis auf eine gewisse Neigung zu übermäßigem Alkoholgenuss, keine negativen Hinweise vor.

  1. Zum nächsten Dokument Fahnenflucht mit tödlichem Ausgang bei Gollensdorf

    4. Januar 1966
    Einzelinformation Nr. 5/66 über die Verhinderung einer Fahnenflucht durch Anwendung der Schusswaffe mit tödlichem Ausgang im Bereich der Kompanie Gollensdorf GR Salzwedel, 5. Grenzbrigade am 1.1.1966

  2. Zum vorherigen Dokument Tödliche Verletzung eines LPG-Bauern in Viehle

    3. Januar 1966
    Einzelinformation Nr. 2/66 über die tödliche Verletzung eines LPG-Bauern in Viehle, [Kreis] Hagenow, [Bezirk] Schwerin infolge Schusswaffenanwendung durch Angehörige der NVA/Grenze