Grenzsoldaten kontaktieren Bayerische Beamten und Zivilisten
20. Januar 1966
Einzelinformation Nr. 44/66 über Kontaktaufnahmen durch NVA-Angehörige der Kompanie Probstzella, Grenzbrigade Rudolstadt, zu Angehörigen der Bayerischen Grenzpolizei, Westzöllnern und westdeutschen Zivilpersonen
Durch die Tätigkeit des MfS wurde bekannt, dass fast der gesamte 2. Zug der Kompanie Probstzella in der Zeit von Mai bis September 1965 wiederholt Kontakt zu Angehörigen der Bayerischen Grenzpolizei, des Westzolls und zu westdeutschen Zivilpersonen aufgenommen hat. An den ca. 170 Kontaktaufnahmen waren insgesamt 21 NVA-Angehörige beteiligt, von denen sieben durch das MfS inhaftiert, sieben dem MStA übergeben und sieben disziplinarisch bestraft wurden.
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben Folgendes:
Die Kontaktaufnahmen erfolgten fast ausschließlich im Grenzabschnitt Falkenstein, an der Gaststätte »Zum Falkenstein«, ca. 40 m von der Bahnlinie Berlin-München entfernt. In diesem Abschnitt bildet der Zaun der Gaststätte die unmittelbare Grenze. Die Grenzsicherungsanlagen befinden sich ca. 10 m vom unmittelbaren Grenzverlauf entfernt in Richtung eigenes Territorium.
In jedem Fall wurden bei der Aufnahme von Kontakten die Grenzsicherungsanlagen in Richtung Westdeutschland durchbrochen, wobei jedoch – bis auf den Gefreiten [Name 1] – alle daran beteiligten NVA-Angehörigen das Territorium der DDR nicht verließen.
Kontakte wurden vor allem zu Gästen (meist Reisegesellschaften), zum Gaststätteninhaber und seiner Ehefrau sowie zu dem Gaststättenpersonal aufgenommen. Der Gefreite [Name 1] nahm zu der in der Gaststätte beschäftigten [Vorname Name 2] intime Beziehungen auf und besuchte sie zu diesem Zweck auch auf westdeutschem Gebiet. Kontaktaufnahmen zu Bayerischen Grenzpolizisten und Westzöllnern nahmen einen geringen Umfang ein.
Bei den Kontaktaufnahmen wurden vornehmlich Angaben über persönliche Belange gemacht und Adressen ausgetauscht, aber teilweise auch direkte dienstliche Geheimnisse aus dem Kompaniebereich (u. a. den Einsatz von Nachtsichtgeräten betreffend) preisgegeben. In größerem Umfange wurden bei diesen Kontaktaufnahmen Genussmittel wie Zigaretten, Bier, Schokolade usw. erbettelt und entgegengenommen. Die bereits genannte [Name 2] beschaffte auf Bestellung des [Name 1] Westwaren, u. a. Autopolitur, Berufskittel, Prospekte usw. und stand mit [Name 1] und dessen Ehefrau in Briefverbindung.
Initiator der Kontaktaufnahmen war hauptsächlich der als stellvertretende Zugführer eingesetzte Unteroffizier Blümel,1 Kandidat der SED. Blümel war bis zu seiner Festnahme am 26.10.1965 an ca. 40 Kontaktaufnahmen beteiligt. In seiner Eigenschaft als stellvertretender Zugführer nahm er die Postenplanung des 2. Zuges vor, wobei er die Posten wunschgemäß einsetzte und damit die beabsichtigten Kontaktaufnahmen bewusst begünstigte und unterstützte.2
Blümel nahm erstmals im Mai 1965 Kontakt zu westdeutschen Personen auf, und führte immer neue Begleitposten in die Kontaktaufnahmen ein, ohne dass von diesen eine Meldung darüber erfolgte. Unteroffizier [Name 3] wurde auf Weisung von Blümel durch andere NVA-Angehörige in die Kontaktaufnahme mit einbezogen, um ihn durch die Mitbeteiligung zum Schweigen zu bewegen. Während seines Dienstes im Kompaniestützpunkt warnte Blümel die Posten über das Grenzmeldenetz vor eventuellen Offizierskontrollstreifen. Im Grenzgebiet selbst wurden durch die Posten Signalgeräte in das »Warnsystem« mit einbezogen und bei der Annäherung von Kontrollstreifen Signalgeräte ausgelöst, um den Nachbarposten zu warnen. Bei den Kontaktaufnahmen kam es vor, dass daran bis zu vier Postenpaare (acht NVA-Angehörige), einschließlich der Kontrollstreife, beteiligt waren. In Einzelfällen kam es – mit kurzfristigen Unterbrechungen – zu Kontaktaufnahmen bis zu ca. sechs Stunden Dauer.
Blümel hatte bei den Kontaktaufnahmen seine MPi stets durchgeladen und beabsichtigte, diese im Falle einer Überraschung durch eine NVA-Kontrollstreife auch anzuwenden. Anschließend wollte er nach Westdeutschland fahnenflüchtig werden. Bei allen an den Kontaktaufnahmen Beteiligten herrschte die übereinstimmende Meinung, dass auf Grenzverletzer nicht geschossen wird.
Die Kontaktaufnahmen und andere grobe Verstöße wurden im Wesentlichen durch die ungenügende politisch-ideologische Erziehungsarbeit, durch Mängel in der militärischen Führungstätigkeit sowie durch die mangelhafte Disziplin und Ordnung in der Einheit begünstigt. Der Polit-Unterricht wurde formal und nicht praxisverbunden durchgeführt. Es wurde keine Klarheit über das Freund-Feind-Problem geschaffen. Die NVA-Angehörigen zweifelten die Richtigkeit der Ausführung ihrer Vorgesetzten an, da die verantwortlichen Offiziere bei der Erläuterung der politischen Probleme teilweise sehr unsicher auftraten. Die mangelhafte politische Erziehungsarbeit zeigte sich auch darin, dass aus Kontaktaufnahmen stammende Westzigaretten im Kompanieobjekt offen geraucht wurden. Westzeitschriften wurden anderen Kompanieangehörigen zugänglich gemacht und zum Teil ausgelegt.
Durch die verantwortlichen Offiziere wurde die Kontroll- und Aufsichtspflicht völlig vernachlässigt. Obwohl sich an der Stelle der Kontaktaufnahmen bereits ein richtiger Trampelpfad abzeichnete, wurden keine Maßnahmen zur Kontrolle und Überprüfung eingeleitet. Die unmittelbar an der Staatsgrenze liegende westdeutsche Gaststätte »Zum Falkenstein« wurde nicht als Schwerpunkt für mögliche Kontaktaufnahmen oder Provokationen betrachtet, obwohl viele Umstände eindeutig darauf hinwiesen. (Niedergetretene Drahtsperre, Trampelpfad, an Bäume geklebte Etikette von Westzigarettenschachteln und Bierflaschen)
Der Einsatz der Kontrollstreifen war den Posten, u. a. durch Befragen, teilweise schon vor ihrem Posteneinsatz bekannt. Erfahrungsgemäß wussten sie auch, dass die am weitesten vom Kompanieobjekt entfernt liegenden Grenzabschnitte im Kompaniebereich kaum kontrolliert wurden. Diese ermöglichte es den Posten, während des Grenzdienstes zu schlafen, die Postenwege zu verlassen und Gaststätten aufzusuchen bzw. Einkäufe zu erledigen, Jagden mit Schwarzmunition durchzuführen und sich oft stundenlang aus dem Postengebiet zu entfernen.
In mehreren Fällen wurden die Posten zweckentfremdet eingesetzt. Zum Beispiel zog der Kompaniechef Hauptmann Hoßfeld3 ein zur Absicherung von Arbeiten im Grenzgebiet eingesetztes Postenpaar ab und ließ für sich Pilze sammeln. Andere Offiziere der Kompanie, die als Kontrollstreife eingesetzt waren, empfingen in der Waffenkammer ihre Dienstwaffe, legten sich in ihr Zimmer schlafen und meldeten sich zum Zeitpunkt des Ablaufs der Kontrollstreife zurück, obwohl sie das Objekt nicht verlassen hatten. Durch eingesetzte Krad-Streifen4 wurden die Kilometerzähler vom Krad abmontiert und anschließend Privatfahrten durchgeführt, ohne dass die vorgesehenen Streifenwege abgefahren wurden.
Fast alle der an den Kontaktaufnahmen beteiligten NVA-Angehörigen stammen aus Arbeiterfamilien. Keiner dieser Angehörigen ist bisher negativ angefallen; auch in den Wohngebieten wurden keine negativen oder feindlichen Handlungen bekannt. Außer Blümel beabsichtigte keiner fahnenflüchtig zu werden, obwohl alle Beteiligten von westdeutschen Personen wiederholt dazu aufgefordert worden waren. Nach dem Stand der bisherigen Untersuchungen erfolgte die Verbindungsaufnahme ohne feindliche Absicht. Sie verfolgten lediglich das Ziel, die Zeit des Grenzdienstes zu verkürzen und in den Besitz von Genussmitteln zu kommen. Die Untersuchungen werden fortgesetzt.