Grenzverletzung eines Schiffs im Humboldt-Hafen in Berlin
7. Februar 1966
Einzelinformation Nr. 99/66 über eine Provokation im Grenzabschnitt Humboldt-Hafen am 4.2.1966
Über die am 4.2.1966 gegen 19.00 Uhr im Grenzbereich Humboldt-Hafen1 (Bootskompanie Grenzregiment 35) erfolgte Provokation durch das westdeutsche Motorschiff MS »Seelöwe«, Heimathafen Hamburg, liegen dem MfS folgende Hinweise vor:
Das MS »Seelöwe« fuhr am 4.2.1966 gegen 19.00 Uhr, aus Richtung Moltkebrücke kommend, in Richtung Humboldt-Hafen. Da sich vor der Einfahrt zum Humboldt-Hafen Sperrlichter befinden, die vom Schiffsführer nicht beachtet wurden und dem Schiffsführer darüber hinaus bekannt sein musste, dass das Befahren der betreffenden Gewässer nach Eintreten der Dunkelheit verboten ist,2 musste von den Grenzsicherungskräften angenommen werden, dass das Schiff über den Spandauer Schifffahrtskanal in Richtung Nordhafen (Westberliner Territorium) fahren wollte. Von der Besatzung des Grenzbootes 21 wurde das MS »Seelöwe« daraufhin durch drei Hupsignale und rote Lampensignale, die in der Schifffahrtsordnung allgemein als Stoppsignale festgelegt sind, zum Stoppen der Fahrt aufgefordert. Diese Signale blieben gleichfalls unberücksichtigt. Auch auf dreimaliges Schießen der Gefechtsfeldbeleuchtung reagierte die Schiffsbesatzung nicht. Aufgrund der Nichtbeachtung aller Stoppsignale versuchte die Besatzung des Grenzbootes 21 durch Quersteuern ihres Bootes das MS »Seelöwe« an der Einfahrt zum Spandauer Schifffahrtskanal zu hindern. Da das westdeutsche Schiff seine Fahrt jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit fortsetzte, musste das Grenzboot seine eingenommene Position wieder verlassen, weil es sonst gerammt worden wäre. Von der Schusswaffe wurde nicht Gebrauch gemacht, da die Schussrichtung ungünstig war und Gefahr für die Landposten an der Invalidenstraße sowie die Bevölkerung in den naheliegenden Wohnhäusern bestanden hätte. Das Territorium der DDR wurde durch das MS »Seelöwe« auf ca. einen Kilometer Länge verletzt. Auf westlicher Seite wurden keine weiteren Handlungen festgestellt.
Aufgrund des geschilderten Vorkommnisses wurde das MS »Seelöwe« am 5.2.1966 bei der Rückreise an der Grenzübergangsstelle Nedlitz/Potsdam vorläufig nicht zur Weiterreise abgefertigt und entsprechende Befragungen des Schiffsführers, [Name, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1938, wohnhaft Hamburg, sowie des Bootsmannes durchgeführt. Im Ergebnis dieser Untersuchungen ist einzuschätzen, dass die Schall- und Lichtsignale des Grenzbootes 21 von der Schiffsbesatzung nicht in provokatorischer Absicht ignoriert wurden. Offensichtlich liegt seitens der Schiffsbesatzung ein Missverständnis über die Bedeutung der abgegebenen Signale vor. Da die geringe Breite der Fahrtrinne im Spandauer Schifffahrtskanal darüber hinaus die ungeteilte Aufmerksamkeit der Besatzung zum einwandfreien Steuern des Schiffes erforderte und nach Einbiegen des Schiffes in den Kanal keine weiteren Signale mehr erfolgten, setzte das MS »Seelöwe« ohne Aufenthalt die Fahrt fort.
Aufgrund dieser Sachlage wurde das Schiff am 6.2.1966 – nach entsprechender Verwarnung der Besatzung – in Richtung Westdeutschland abgefertigt.