Jazz-Gottesdienste in Karl-Marx-Stadt
4. Mai 1966
Einzelinformation Nr. 350/66 über die zunehmende Aktivität kirchlicher Kreise zur negativen Beeinflussung der Jugend
In den letzten Wochen und Monaten ist eine zunehmende Aktivität kirchlicher Kreise in ihrer sogenannten Jugendarbeit festzustellen. Sie ist mit der Anwendung raffinierter Formen und Methoden zur Beeinflussung der Jugend im Sinne dieser kirchlichen Kreise verbunden und reicht bis zu versteckter und offener Hetze gegen die DDR.
Führende evangelische Kirchenkreise haben wiederholt festgestellt, dass die Kirche bei ihren Versuchen der verstärkten Einflussnahme auf die Jugend aus dem Stadium der Stagnation herausgetreten sei. Leitende kirchliche Amtsträger haben darauf gedrungen, dass die verantwortlichen Vertreter der kirchlichen Jugendarbeit ihre Situation »völlig nüchtern und real einschätzen« müssten. Generalsuperintendent Jacob1 (Cottbus) hatte z. B. mehrmals gefordert, sich in der Jugendarbeit »voll und ganz auf die Mentalität der heutigen Jugend einzustellen, keine Handlangerdienste anzubieten, Vertrauen entgegenzubringen und Verantwortung zu übertragen«.
Eine besonders große Aktivität hat die evangelische Kirche in Karl-Marx-Stadt und in anderen Städten des Bezirks entfaltet. In Karl-Marx-Stadt hatte die »Junge Gemeinde«2 bereits 1963 im Andreas-Kirchengemeindesaal unter dem Motto »soweit ist der Raum der Kirche« ein Jazz-Konzert mit etwa 400 Besuchern veranstaltet, an dem u. a. der Schlagersänger Fred Frohberg3 mitwirkte.
Nach weiteren Experimenten in Karl-Marx-Stadt und Freiberg nahm diese Art von Veranstaltungen ab 1965 feste Formen an. In der Pauli-Kreuz-Kirche Karl-Marx-Stadt findet regelmäßig einmal im Monat ein sogenannter »Gottesdienst einmal anders« statt. An diesen Veranstaltungen nehmen in der Regel 1 000 bis 1 200 Personen teil, davon ca. 80 % Jugendliche. Ein Teil der Besucher wird mit Autobussen herangebracht. Die Jugendlichen werden vor allem durch den von jedem normalen Gottesdienst abweichenden Rahmen angelockt (von einer neunköpfigen Band gespielte Jazz-Musik, Songs und speziell modernen Rhythmen angepasste Kirchenlieder). Noten bzw. Schallplatten stammen aus Westdeutschland. Teilweise wurden entsprechende kirchliche Texte z. B. von Pastor Dr. Lehmann4 (Schlosskirche Karl-Marx-Stadt) verfasst.
Die genannten kirchlichen Veranstaltungen werden liturgielos durchgeführt. Der Prediger erscheint im Straßenanzug. Sogenannte Fürbittgespräche werden zum Teil mit der Vorführung von Dias verbunden. Die Auswahl und vor allem die Kommentierung der Dias lässt die damit verfolgte Absicht deutlich erkennen. Hierfür einige Beispiele von den Veranstaltungen am 2.1. und 27.2.1966:
Bild: Pfarrer mit einem SA-Mann
Text: Man dürfte in keinem Staat, der gegen die Kirche gerichtet ist, mitwirken (von den Anwesenden als Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Staat empfunden).
Bild: Alter Mann
Text: Fordert in unserer Stadt von der Verwaltung mehr Altersheime.
Bild: Ein kleines Kind
Text: Dieses Kind wäre nicht am Leben, wenn es der Mutter geglückt wäre, durch einen Arzt einen Eingriff vornehmen zu lassen. Nach einer neuen Instruktion durch die Regierung wird das in Zukunft leichter möglich sein.5
Bild: Junge spielt mit Spielzeugpanzern
Text: Diese Panzer können später einmal schießen. Haltet eure Kinder von solchem Spielzeug und von entsprechenden Filmen und Fernsehstücken fern.
Bild: Landschaft mit Stacheldraht
Text: So wie auf diesem Bild hat sich manche Landschaft verändert. Mauern und Stacheldraht sind in der Welt errichtet worden, trennen Deutsche von Deutschen und Bruder von Bruder. Nicht nur hier in Deutschland, nein, in Vietnam, Korea6 usw. werden Menschen gehindert, miteinander zu verkehren.
Die während dieser Veranstaltungen gehaltenen Predigten sind in der Regel sehr kurz und dauern selten länger als 15 Minuten. Am 30.1.1966 predigte Superintendent Fehlberg7 über das Thema »Unser Existenzminimum«. Er berief sich u. a. auf die »Hungernden in aller Welt« und führte aus, dass auch bei uns kinderreiche Familien, Rentner usw. vor der Frage stehen würden, ob sie am anderen Tag wieder genug zu essen haben. Die Welt habe genügend Nahrung. Man dürfte die wissenschaftlichen Erkenntnisse nur nicht für Armeen, Raumfahrtunternehmen usw. verwenden.
Weitere Predigten befassten sich u. a. damit, wie sich ein Christ zu verhalten habe, wenn er bei der Wohnungszuteilung benachteiligt wird (er soll dem aufgrund seiner Beziehungen Bevorzugten gratulieren); man dürfe die Schuld nicht nur bei anderen suchen/auch Staatsmänner müssten einmal die Schuld bei sich selbst suchen; Mit der Frage »wie Gott will« (Erläuterung des sogenannten Schicksalsbegriffs). Im letzteren Fall wurde ein Sketch dargeboten, in welchem u. a. aus einer Zeitung »Biermann8 dichtet falsch« zitiert und als »gottgewollt« dargestellt wurde.
Nach neuen Informationen fand der sogenannte Jazz-Gottesdienst am 24.4.[1966] zu dem Thema »Leben ist lebensgefährlich« statt. Die Kirche war überfüllt und die Besucherzahl wurde auf 1 200 bis 1 500 geschätzt. Pastor Dr. Lehmann bezeichnete in seiner Predigt den Wunsch vieler fortschrittlicher DDR-Bürger, in einer Partei oder Massenorganisation mitzuarbeiten, als ein »Werk des Teufels«. Im üblichen Fürbittgespräch mit Dias wurde ein Lichtbild (Redner mit erhobenem Zeigefinger) wie folgt kommentiert: »Radio, Fernsehen und Presse versuchen uns täglich zu beeinflussen; man will uns lenken, schulen und leiten. Lasst uns beten! Herr lass uns nicht glauben, was täglich Fernsehen, Rundfunk und Presse uns weißzumachen versuchen; hilf uns kritisch zu prüfen über Wahres und Unwahres. Lass uns das rechte Wort zur rechten Zeit finden und lerne uns das Schweigen, wenn wir nicht schwätzen sollen.«
Im Anschluss an diese Art von »Gottesdiensten« finden im Gemeinderaum der Pauli-Kreuz-Kirche Aussprachen statt. Den Teilnehmern – in der Regel kommen 40 bis 50 Personen einer entsprechenden Aufforderung nach – wird die Möglichkeit gegeben, die verschiedenartigsten Fragen zu stellen.
Die unmittelbaren Organisatoren dieser sogenannten Gottesdienste sind der Jugendpfarrer Böhme,9 Pfarrer Mendt10 (1958 bis 1963 als Nachfolger von Dr. Schmutzler11 Studentenpfarrer in Leipzig) und Pastor Dr. Lehmann. (Lehmann hat in der westdeutschen Kirchenzeitschrift »Ev. Digest« einen Artikel12 zum Thema »Jazz und Zwang« veröffentlicht, in welchem er zum Ausdruck brachte, dass die moderne Kirchen- und Orchestermusik sowie die neue Form der Gottesdienste zu loben sei und man auch einmal von der bisherigen Liturgie abgehen müsse.)
Diese religiös verbrämten politischen Veranstaltungen »Gottesdienst einmal anders« fanden in dem genannten Umfang und regelmäßig bisher nur in Karl-Marx-Stadt statt. Führende Kirchenkreise sind jedoch bemüht, die in Karl-Marx-Stadt gewonnenen Erfahrungen zu verallgemeinern und solche Veranstaltungen auch in anderen Städten durchzuführen. So hatte z. B. die bereits angeführte Veranstaltung am 24.4.[1966] in Karl-Marx-Stadt eine Art Vorläufer in Glauchau. Von den Karl-Marx-Städter Initiatoren wurde diese Veranstaltung am 20.4.[1966] in der Glauchauer St. Georgenkirche durchgeführt. Die Teilnehmerzahl wurde hier auf 1 700 bis 2 000 geschätzt. Neuerdings ist geplant, solche sogenannten Jazz-Gottesdienste auch in Freiberg durchzuführen.
Ferner fand im März dieses Jahres im Pastoralkolleg in Krummenhennersdorf bei Freiberg eine Arbeitstagung zum Thema »Gottesdienst einmal anders« statt. Wie berichtet wird, habe es sich bei den Teilnehmern um Befürworter des sogenannten Jazz-Gottesdienstes gehandelt, die nach neuen Wegen gesucht haben, um diese Art kirchlicher Veranstaltungen in die Breite zu tragen.
Am 25.4.[1966] fand im Gemeindesaal der Jakobikirche in Karl-Marx-Stadt eine Besprechung der Pfarrer der Ephorie I/Karl-Marx-Stadt, der Diakone, Kantoren und Kirchenmusikdirektoren zur Auswertung der Tagung in Krummenhennersdorf statt. In der Diskussion habe der größte Teil der Anwesenden den sogenannten Jazz-Gottesdienst abgelehnt. Superintendent Fehlberg habe jedoch in seinen Schlussbemerkungen zu verstehen gegeben, dass sich die Pfarrer um die Gottesdienste in ihren eigenen Gemeinden kümmern sollten, wobei es aber erforderlich sei, zur Pauli-Kreuz-Kirche in die Lehre zu gehen.
Die Befürworter der sogenannten Jazz-Gottesdienste sind bestrebt, die breite kirchliche Opposition gegen die neue Form kirchlicher Veranstaltungen zurückzudrängen. Pfarrer Mendt operierte dabei mit dem »Argument«: »In einer Arbeiterstadt muss man die Arbeiter in das Gotteshaus führen. Dazu ist jedes Mittel recht.«
Landesbischof Noth13 und weitere führende Vertreter des Landeskirchenamtes nahmen »zu Studienzwecken« am 30.1.1966 am sogenannten Jazz-Gottesdienst in Karl-Marx-Stadt teil. Bischof Noth hatte bereits auf der Herbstsynode14 u. a. ausgeführt: »Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich die Gottesdienste in der Pauli-Kreuz-Kirche in Karl-Marx-Stadt, die freilich auch eine Reihe ernster Fragen aufwerfen … Es ist aber tatsächlich nicht Sensation oder nur Experimentierfreudigkeit, sondern ernsthafte praktische und kritische Suche nach einer gottesdienstlichen Gestalt, die dem heutigen Menschen – übrigens nicht nur den jüngeren – hilft, den Weg von seiner Alltagswelt in die gottesdienstliche Gemeinde zu finden …«
Neben den eingangs geschilderten Zielen benutzt die Kirche die sogenannten Jazz-Gottesdienste gleichzeitig zur Verbesserung ihrer finanziellen Lage. Die Höhe der Kollekten bei den sogenannten Gottesdiensten ergab nach bisherigen Feststellungen jeweils Beträge von über 1 000 MDN. Am 30.1.66 wurden sogar rund 1 800 MDN eingenommen.
Über den Charakter und über Einzelheiten der sogenannten Jazz-Gottesdienste ist der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt informiert. Außerdem sind der Rat des Bezirkes und der Rat der Stadt unterrichtet. Bis jetzt wurden von den staatlichen Organen keine Maßnahmen zur Unterbindung derartiger Veranstaltungen eingeleitet.15 Es wird darauf hingewiesen, dass in Karl-Marx-Stadt der nächste »Gottesdienst einmal anders« am Pfingstsonntag stattfinden soll. Zum gleichen Zeitpunkt finden in Karl-Marx-Stadt das Pfingsttreffen der FDJ und der Arbeiterjugendkongress statt.16 Aufgrund dieser Umstände wird es als notwendig erachtet, die staatlichen Organe in Karl-Marx-Stadt anzuweisen, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten.
Die Anwendung neuer Formen und Methoden in der sogenannten kirchlichen Jugendarbeit zeigt auch in anderen Bezirken und Städten eine zunehmende Tendenz.
Die »Junge Gemeinde« in Berlin-Schöneweide z. B. tritt in dieser Beziehung aktiv in Erscheinung. Neben einer aktiven Werbetätigkeit wird versucht, durch Jazz-Abende Jugendliche für kirchliche Belange zu interessieren.
Auf einer Tagung der »Arbeitsgemeinschaft Evangelisch-Junger Gemeinden« wurde eine Orientierung für die Arbeit der Mitglieder der »Jungen Gemeinde« in der FDJ gegeben. Danach sollen Angehörige der »Jungen Gemeinde« Mitglieder der FDJ werden und in der FDJ für die evangelische Jugendorganisation werben.
In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass sich die Beispiele häufen, wo aktive Angehörige der »Jungen Gemeinde« Mitglieder der FDJ wurden bzw. in der FDJ Funktionen ausüben.
Vielfach entfalten Jugendleiterinnen und Jugendwarte (im Alter von 18 bis 25 Jahren), die in der Vergangenheit an sogenannten Rüstzeiten17 und anderen Jugendveranstaltungen teilgenommen und sich eine gewisse Praxis angeeignet haben, aber keine gründliche theologische Ausbildung besitzen, eine große Aktivität. So ist es solchen Kräften bzw. der »Jungen Gemeinde« u. a. in einer Reihe von Gemeinden im Bezirk Erfurt, die zum Bereich der Landeskirche Thüringen bzw. der Landesprovinz Sachsen gehören, gelungen, ihren Einfluss zu vergrößern. Sie haben es verstanden, die Jugendarbeit abwechslungsreich und interessant zu gestalten (Vortragsabende, Jazz- und Tonbandmusik, Wanderungen und Ausflüge, Sportveranstaltungen, Bastelabende usw.).
Die bereits aus früherer Zeit bekannte Konzentrierung eines Teils der Jugendarbeit der Kirchen beider Konfessionen auf die studentische Jugend wurde in der letzten Zeit durch zahlreiche Beispiele bestätigt. In der Tätigkeit der Studentengemeinden, vor allem in der ESG, gibt es zwar Bestrebungen seitens der Mitglieder, eine verhältnismäßig reale und vernünftige Haltung zur Entwicklung der DDR einzunehmen, die Leitungen werden jedoch überwiegend aus reaktionären Kräften gebildet. Auch hier trat die ESG-Gruppe in Karl-Marx-Stadt durch besondere Aktivitäten in Erscheinung. Den 13. August18 hatte der Leiter der Gruppe als einen »Tag der Trauer« bezeichnet und ein entsprechendes Verhalten gefordert.
Pfarrer Böhme/Karl-Marx-Stadt hatte am 11.11.1965 vor einer ESG-Gruppe erklärt: »Christentum muss etwas Beängstigendes, Erregendes, Zerstörendes für die anderen sein. Christentum heißt, den anderen immer ein Stück voraus zu sein, andere Zukunftspläne und Erwartungen vom Leben haben, Christen sollen keine Hemmungen haben – Wahlen, Versammlungen, Wehrpflicht, gesellschaftswissenschaftlicher Unterricht – auch auf die Gefahr hin, dass es ihnen dann übel ergeht oder sogar Verhaftungen drohen …«
In der ESG, besonders in den Universitätsstädten Berlin, Leipzig und Dresden, wurde die Tätigkeit in sogenannten Kleinkreisen zur Hauptform der Arbeit. Es wurde davon ausgegangen, dass der Zusammenschluss der Studenten in Interessengruppen verschiedener Fachrichtungen eine intensivere Beeinflussung ermöglicht.
Als aktivstes Gremium der ESG kristallisiert sich immer mehr der sogenannte Mitarbeiterkreis heraus. Dieser Kreis tagt u. a. jährlich zweimal im Stephanus-Stift Berlin-Weißensee19 und arbeitet entsprechende Themen zur Behandlung in den Gruppen aus (insbesondere gegen die sozialistische Erziehung an Hochschulen und Universitäten gerichtet).