Jugendliche randalieren im Kino und Bus in Berlin-Biesdorf
28. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 817/66 über das rowdyhafte Verhalten von Jugendlichen in Berlin-Biesdorf am 19.10.1966
Dem MfS wurde bekannt, dass am 19.10.1966, gegen 19.45 Uhr, ca. 18 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren vor dem Filmtheater »Rio« Berlin-Biesdorf, Priegnitzstraße, und im O-Bus 37 durch rowdyhaftes Verhalten, verbunden mit staatsverleumderischen Äußerungen, in Erscheinung traten. Im Ergebnis der Untersuchungen wurden 14 Jugendliche ermittelt, die unmittelbar an den Vorkommnissen beteiligt waren. Von der VP musste gegen fünf Jugendliche ein EV mit Haft und gegen neun eine EV ohne Haft eingeleitet werden. (Ermittlungsverfahren wegen Staatsverleumdung und schwerer Sachbeschädigung mit rowdyhaften Charakter gemäß §§ 20,1 StEG, 304,1 StGB)1
Die Ermittlungen zum Sachverhalt ergaben Folgendes:
Die Jugendlichen, überwiegend in Berlin-Marzahn wohnhaft, besuchten – zum Teil in kleineren Gruppen, zum Teil unabhängig voneinander – die Nachmittagsvorstellung des Filmtheaters »Rio« »Die drei Musketiere«.
Bereits beim Eintreffen der Jugendlichen im Zuschauerraum vor Beginn der Vorstellung begrüßten sie sich gegenseitig – sie kennen sich aufgrund gemeinsamen Schulbesuchs der 13. Oberschule Berlin-Marzahn – mit lautstarken Zurufen. Diese lautstarken und störenden Zurufe behielten sie auch während der Vorstellung bei, wobei sie gleichzeitig noch durch unmotivierte Zwischenrufe während der Filmvorführung, durch Lärmen und laute Unterhaltung den Ablauf störten. Obwohl sie mehrmals durch das Publikum sowie die Platzanweiserin zur Ordnung gerufen wurden, änderten sie ihr Verhalten nicht wesentlich.
Nach Beendigung der Vorstellung verließen die Jugendlichen unter lautem Absingen obszöner Lieder den Zuschauerraum. Vor dem Filmtheater blieben ca. 16 bis 18 Jugendliche stehen und lärmten, offensichtlich in der Absicht, Straßenpassanten auf sich aufmerksam zu machen. Nach kurzer Zeit begaben sich die Jugendlichen in Richtung Oberfeldstraße, um – nach ihren Angaben – den O-Bus 37 in Richtung Marzahn zu erreichen. Dabei verstärkten sie das Randalieren und brüllten im Sprechchor: »1 und 2 und 3 und … 10, DDR ist Scheiße«. Die Lautstärke bekräftigten sie besonders dann, wenn ihnen Passanten entgegenkamen.
Etwa um 20.00 Uhr bestiegen ca. zehn dieser Jugendlichen den schaffnerlosen Anhänger des O-Bus 37 nach Marzahn. Die übrigen Jugendlichen begaben sich in den Wartesaal des Bahnhofes Berlin-Biesdorf. Während die am Bahnhof Biesdorf verbliebenen Jugendlichen von diesem Zeitpunkt an nicht weiter in Erscheinung traten, setzten die Jugendlichen im O-Bus 37 die staatsverleumderischen Schmährufe im Sprechchor fort, randalierten und nahmen schwere Sachbeschädigungen vor. Gemeinsam handelnd zerschlitzten sie mit Taschenmessern Sitzpolster, zerschlugen eine Trennscheibe, schraubten Signalklingelknöpfe ab, entwendeten Nothammer, entnahmen ohne Bezahlung Fahrscheine aus der Zahlbox und anderes. Die Sachbeschädigungen wurden durch den Fahrer des O-Bus 37 erst festgestellt, nachdem die Jugendlichen das Fahrzeug an der Station »Marzahner Krug« bereits verlassen hatten. Am »Marzahner Krug« gingen die Jugendlichen gegen 20.15 Uhr auseinander.
Bei den fünf Inhaftierten Jugendlichen handelt es sich um [Name 1, Vorname] – Spitzname »Geist«, geboren [Tag, Monat] 1948 in Berlin, wohnhaft Berlin-Marzahn, [Straße, Nr.], Dreherlehrling im VEB Gasversorgung Berlin ([Name 1] fiel im März 1966 bei der VP wegen unerlaubten Umgangs mit einem Sprengkörper – Unterwassersprengzünder, der im VEB Tiefbau für Bunkersprengungen verwandt wird –, mit dem er sich verletzte, an). [Name 2, Vorname] – Spitzname »Osse«, geboren [Tag, Monat] 1948 in Ahrensfelde, wohnhaft Berlin-Marzahn, [Straße, Nr.], Schmiedelehrling im VEB »Edwin Hoernle«,2 Berlin Marzahn. [Name 3, Vorname] – Spitzname »Hatte«, geboren [Tag, Monat] 1950, wohnhaft Berlin-Marzahn, [Straße, Nr.], Schrottaufbereiter im VHZ Schrott Berlin-Lichtenberg. [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1951, wohnhaft Berlin-Lichtenberg, [Straße, Nr.], Hilfsarbeiter im S-Bahnbetrieb, Berlin-Friedrichsfelde, vorbestraft wegen schwerer Sachbeschädigung auf dem Spielplatz des Kindergartens Berlin-Lichtenberg, Gotlindestraße.
Bei den in EV erfassten 14 Jugendlichen handelt es sich um
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Fünf Schüler der 13. Oberschule Marzahn
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Ein Sonderschüler der 44. Hilfsschule Berlin-Lichtenberg
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Fünf Lehrlinge
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Drei Hilfsarbeiter bzw. Arbeiter
Die in Biesdorf angefallenen Jugendlichen sind nicht als Gruppe bekannt. Bis auf zwei Jugendliche kennen sie sich aber untereinander aufgrund des gemeinsamen Schulbesuchs und des gemeinsamen Wohnorts. Einige Jugendliche trafen sich in der Vergangenheit gelegentlich zu gemeinsamen Gesprächen, während der es jedoch zu keinen Vereinbarungen gekommen sein soll.
Der [Name 1] wurde als Anführer im Zusammenhang mit dem Vorkommnis am 19.10.[1966] ermittelt. Er habe auch einige ihm bekannte Jugendliche zum Kinobesuch am 19.10.1966 in Biesdorf veranlasst, ohne dabei ein bestimmtes Vorkommnis vorbereiten zu wollen. Bei der noch laufenden Untersuchung tritt [Name 1] sehr verstockt auf und gibt auf Befragungen der Untersuchungsführenden keine Antworten. [Name 1] wohnt bei seiner Mutter, Mitglied der SED, freiwilliger Helfer der VP, Hausmeister der 13. Oberschule Marzahn. Der Vater des [Name 1] hält sich vermutlich in Westdeutschland auf. Zum Motiv des Verhaltens am 19.10.[1966] gibt [Name 1] an, lediglich »auffallen« zu wollen; sonst jedoch keine gezielte oder geplante Handlung beabsichtigt zu haben.
Bis auf einen Jugendlichen – der auch in gesellschaftlicher Hinsicht in der GST mitarbeitet (Vater, Mitglied der SED und leitender Angestellter im technischen Bereich beim Deutschen Fernsehfunk) – sind alle anderen Jugendlichen zum Teil als Rowdy, als Schulschwänzer bzw. Arbeitsbummelant bekannt. In gesellschaftlicher Hinsicht treten sie nicht in Erscheinung. Zum überwiegenden Teil bestehen Westverbindungen (brieflich) und werden Westfernsehen und Westrundfunk empfangen. Ein Jugendlicher wird als »Gammler-Anhänger« bezeichnet, was auch durch sein Äußeres kenntlich wird. Zwei Jugendliche waren an den Ausschreitungen am 7.10.1966 in der Karl-Marx-Allee beteiligt (ohne Haft, ohne EV).3
Zur Auswertung dieser Ausschreitungen wurden am 21.10.1966 im Klub der Kultur Biesdorf ein Jugendforum in Anwesenheit von Vertretern der VP und der Staatsanwaltschaft durchgeführt. Im Verlaufe des Forums distanzierten sich die 68 Teilnehmer, vorwiegend Jugendliche, von dem Vorfall.
Die weiteren Untersuchungen zu dem Vorkommnis am 19.10.[1966] in Berlin-Biesdorf werden durch die VP geführt.