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Kulturpolitische Diskussionen in Intelligenzclub Stahnsdorf

8. Juni 1966
Einzelinformation Nr. 438/66 über die politisch-ideologische Situation im wissenschaftlichen Bereich des Halbleiterwerkes Stahnsdorf bzw. im Intelligenzclub »Joliot-Curie« Teltow/Kleinmachnow, [Kreis] Potsdam

Dem MfS wurde bekannt, dass in letzter Zeit verstärkt politisch negative Diskussionen unter Angehörigen der Intelligenz im wissenschaftlichen Bereich des Halbleiterwerkes Stahnsdorf,1 Bezirk Potsdam sowie unter Kulturschaffenden des Raumes Teltow auftreten.

Die politisch negativen Diskussionen beinhalten im Wesentlichen folgende Tendenzen:

Die SED sei nicht in der Lage, die Wirtschaft der DDR zu führen.

Die Intelligenz müsse auch in der Politik die Führung übernehmen.

Als Begründung dieser »These« wird angeführt, der Marxismus bedürfe einer Revision, da die von Karl Marx2 entwickelte Wissenschaft nicht mehr in unsere heutige Gesellschaftsordnung passe. In der Etappe unmittelbar nach 1945 sei die Führung durch Arbeiter und Bauern historisch begründet und den Umständen entsprechend richtig gewesen. Die Grundlagen dazu seien jedoch heute in der Etappe der technischen Revolution nicht mehr vorhanden. In der Wirtschaft würde die Intelligenz bereits die Führung ausüben, aber die Leitung von Politik und Parteileben müsste ihr noch übertragen werden.

Die Partei mische sich bei Überbetonung ihrer führenden Rolle in alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche ein, wobei die »Losung«: »Die Partei hat immer recht« im Vordergrund stehe. Somit würden eine Reihe von Fehlentscheidungen herbeigeführt.

Der Marxismus sei als Gesellschaftsordnung objektiv nicht praktizierbar, da er den Wünschen der Gesellschaft entgegenstehe.

Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nehme der DDR die wirtschaftliche und politische Selbständigkeit.

Dabei sprechen sich die Wortführer besonders gegen den 1966 unterzeichneten Wirtschaftsvertrag Sowjetunion – DDR3 aus.

Als »Beweis« der Richtigkeit dieser »These« wird angeführt, Dr. Apel4 habe sich aus Protest gegen diesen Wirtschaftsvertrag am Tage der Unterzeichnung des Vertrages das Leben genommen

Angehörige der Intelligenz des wissenschaftlichen Bereiches des Halbleiterwerkes Stahnsdorf vertreten in diesem Zusammenhang die Meinung, die Einführung von Gleichrichtern aus der SU nehme der Starkstromentwicklung der DDR jede Perspektive.

In diesem Falle leiste die SU auch keine wissenschaftlich-technische Hilfe, sondern habe erst bei früheren Besuchen in der DDR die Entwicklungen der DDR »abgeschöpft«.

Es wird weiter angeführt, die sowjetischen Bauelemente seien qualitativ minderwertiger, das Weltniveau in der Bauelemente-Entwicklung werde nach wie vor vom westlichen Ausland bestimmt.

Das 11. Plenum habe die »Freiheitlichkeit« der Kunst gesprengt.5

Angehörige des Intelligenzclubs »Joliot-Curie«6 – besonders Angehörige der künstlerischen Intelligenz – erklärten wiederholt ihre Unzufriedenheit über Inhalt und Form der auf dem 11. Plenum der SED geführten Auseinandersetzungen zu den Problemen der Kunst. Besonders herausgestellt wurde, das 11. Plenum bedeute die Rückkehr zu einem »harten Kurs«.

Das 11. Plenum habe praktiziert, dass durch subjektive Entscheidungen einzelner »progressive« Entwicklungstendenzen in Kunst und Kultur verhindert werden könnten. der Intelligenz des wissenschaftlichen Bereiches des Halbleiterwerkes Stahnsdorf vertreten in diesem Zusammenhang die MeinungDabei wird hervorgehoben, Biermann7 sei ein talentierter Lyriker und ein überzeugter Kommunist, der den »Mut zur Wahrheit« habe. Solche »Talente« sollte man überall fördern.

Im Sozialismus müsse größte »Freiheit« in der Entwicklung von Kunst und Literatur gewährt werden.

Diese Argumente treten besonders seit Ende 1965, mehrfach nach dem 11. Plenum, in Erscheinung, wobei sie sowohl bei Angehörigen der Intelligenz des wissenschaftlichen Bereiches des Halbleiterwerkes Stahnsdorf als auch bei Künstlern des Teltower Raumes im gleichen Umfang eine Rolle spielen.

In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass von diesen Personenkreisen weitgehendst politische Sendungen des Westfernsehens sowie westlicher Rundfunkstationen gesehen bzw. gehört werden und der Einfluss der politisch-ideologischen Diversion deshalb als eine Ursache ihrer negativen Argumentation anzusehen ist.

Zum anderen finden sich diese Diskussionsträger – Wissenschaftler des Halbleiterwerkes und Kulturschaffende aus Teltow-Kleinmachnow – in regelmäßigen Abständen im sogenannten philosophischen Zirkel des Intelligenzclubs zusammen und vertreten dort Konzeptionen, die teilweise als staats- und parteifeindlich gewertet werden müssen.

So wird neben dem Einfluss durch politische Sendungen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen die übereinstimmende Meinungsbildung bzw. der Austausch persönlicher Ansichten offensichtlich auch durch dieses ständige Zusammentreffen im Intelligenzclub »Joliot-Curie« verursacht und begünstigt.

Der philosophische Zirkel im Intelligenzclub »Joliot-Curie« wurde im Jahre 1964 besonders auf die Empfehlung des jetzigen Leiters des Zirkels, Friedel, Peter,8 geboren am [Tag, Monat] 1934, wohnhaft in Kleinmachnow, [Straße Nr.], Dipl.-Mathematiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf, Mitglied der SED, gegründet, nachdem sich bereits vor dieser Zeit eine Reihe von Interessenten – vorwiegend Angehörige der wissenschaftlichen Intelligenz – zu philosophischen Gesprächen in diesem Club zusammengefunden hatten. Der philosophische Zirkel gehört jetzt fest zum Veranstaltungsplan des Clubs und wird bei der Parteileitung des Halbleiterwerkes, da dem Zirkel eine Reihe Mitarbeiter des wissenschaftlichen Bereiches des Werkes angehören, als Parteilehrjahr geführt. Während dem Zirkel ursprünglich ausschließlich Physiker des damaligen Instituts für Halbleitertechnik angehörten, werden jetzt auch andere Angehörige der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz sowie Künstler und Kulturschaffende zu seinem festen Teilnehmerkreis bzw. zu seinen Gästen gezählt.

Die Zirkelteilnehmer treffen sich in der Regel zweimal monatlich im Intelligenzclub. Insgesamt hat der Zirkel durchschnittlich 25 Teilnehmer, davon etwa 15 aus dem VEB Halbleiterwerk und zehn aus anderen wissenschaftlichen und künstlerischen Bereichen. Die Gruppe der Wissenschaftler wird vertreten durch den Leiter des philosophischen Zirkels, Friedel, Peter, die der Kulturschaffenden durch den Leiter des Intelligenzclubs, Zimmermann, Kurt,9 geboren am [Tag, Monat] 1927, wohnhaft in Kleinmachnow, [Straße Nr.], Kabarettist/Schriftsteller – freischaffend –, Mitglied der SED.

Beide Personen, besonders aber Friedel, Peter, sind auch gleichzeitig Wortführer der politisch negativen Argumentationen.

Neben den bereits angeführten »Thesen«, die durch Teilnehmer des philosophischen Zirkels vertreten werden, verbreitet besonders Friedel weiterhin folgende »Ansichten«:

Die Politik der SED sei ein »parteiamtliches Dogma«; die Partei praktiziere ein »Gesetz des maximalen Blödsinns«. Der Marxismus bedürfe deshalb einer Revision, da er keine echte Alternative bilde. Nach Ansicht des Friedel bilde nur der Existenzialismus, wie er von Adam Schaff10 und Paul Sartre11 dargestellt wird, die alleinige Grundlage der künftigen Gesellschaft.

Diese politisch-ideologische Plattform wird von Friedel, Peter offen im philosophischen Zirkel vertreten. Er äußerte im internen Kreis, diese Konzeption im Zirkel durchsetzen zu wollen, wobei er angab, unter den Zirkelteilnehmern befänden sich bereits etwa 15 Gleichgesinnte.

Zur politisch-ideologischen Konzeption des Friedel ist bekannt, dass er sich weitgehendst nach den Theorien Prof. Havemanns12 orientiert, wobei er inoffiziell die Absicht erkennen lässt, diese Theorien auch im Zirkel zu verbreiten und zu erreichen, dass sich die Zirkelteilnehmer mit diesen solidarisieren. Die von ihm mit 15 angegebenen »Gleichgesinnten« würden darin mit seiner Meinung übereinstimmen.

Diese 15 Personen sind fast ausschließlich im wissenschaftlichen Bereich des Halbleiterwerkes beschäftigt. Vornehmlich handelt es sich dabei um Personen, die durch negative Diskussionen, Verdacht des Grenzdurchbruchs, vorhandene Verbindungen nach Westberlin zu ehemaligen Havemann-Studenten, Wehrdienstverweigerung und ähnliches bereits bekannt sind.

Darunter befinden sich auch einige Mitglieder der SED, die gleichzeitig den »inneren Kern« der zahlenmäßig kleinen Parteigruppe des wissenschaftlichen Bereichs des Halbleiterwerkes bilden.

Unter dem Personenkreis der »Gleichgesinnten« befinden sich u. a. der bereits erwähnte Zimmermann, Kurt, ferner

  • Mohr, Ulrich,13 geboren am [Tag, Monat] 1935, Dipl.-Physiker, Laborleiter im VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf

  • [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1935, Dipl.-Physiker, VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf

  • Dr. [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1935, Dipl.-Physiker, Bereichsleiter im VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf, Mitglied der SED

  • Schaefer, Herbert,14 geboren am [Tag, Monat] 1932, Dipl.-Physiker, Gruppenleiter im VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf

  • [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1935, Dipl.-Physiker im VEB Halbleiterwerk Stahnsdorf

  • Kleinfeld, Peter Klaus,15 geboren am [Tag, Monat] 1939, Dipl.-Philologe, tätig als Mitarbeiter im Institut für Anglistik, Humboldt Universität Berlin

Das Interesse einiger Physiker des Halbleiterwerkes Stahnsdorf an Darlegungen Prof. Havemanns bestand bereits zu dem Zeitpunkt, als Havemann noch nicht öffentliche kritisiert wurde. Bereits 1961 und 1962 nahmen Physiker fakultativ an Vorträgen und sogenannten Streitgesprächen bei Prof. Havemann teil. Auf Initiative einiger interessierter Physiker wurden etwa ab 1964 im wissenschaftlichen Bereich des Halbleiterwerkes Mikrofilme von Lektionen Havemanns angefertigt und untereinander ausgetauscht. Das Material – Lektionen usw. – dazu lieferten im Werk tätige Praktikanten aus dem Studentenkreis Prof. Havemanns. Darunter befanden sich Artikel, die jetzt in der in Westdeutschland erschienenen Broschüre »Dialektik ohne Dogma«16 enthalten sind.

Die Anhänger der erwähnten politisch-ideologischen Plattform sind gegenwärtig innerhalb des philosophischen Zirkels bemüht, den Kreis der Sympathisierenden zu erweitern.

In diesem Bemühen wurde besonders durch Friedel, Peter und Zimmermann ein solches Beispiel praktiziert, dass im April 1966 Prof. Stiehler/17Berlin zu einem philosophischen Gespräch in den Zirkel geladen wurde. In der Diskussion mit Prof. Stiehler wurde – nach Einschätzung von Friedel, Peter – erreicht, den Professor von seinen Anschauungen »abzubringen«, indem in typisch Havemannscher »Unbefangenheit und Naivität« Fragen gestellt wurden, die Prof. Stiehler »zum weltanschaulichen Rückzug« zwangen. (In diesen Gesprächen wurde der Name Prof. Havemanns jedoch nicht direkt genannt.)

Dem MfS wurde weiter bekannt, dass der Leiter des philosophischen Zirkels Friedel, Peter in Übereinstimmung mit dem Vorsitzenden des Clubs »Joliot-Curie«, Zimmermann, für das Herbst- und Wintersemester eine in gleicher Richtung liegende neue Reihe philosophischer »Clubgespräche« plant.

Dabei sollen inhaltsmäßig – formuliert liegt bisher nichts Endgültiges vor – folgende Themen zum Hauptkomplex »Was ist Wahrheit?« behandelt werden:

  • Der Wissenschaftler in der staatsbürgerlichen Verantwortung. Wie weit darf die Mitarbeit gehen, wo beginnt die persönliche Verantwortung bzw. die »Befehlsverweigerung«?

  • Was darf der Staat vom Wissenschaftler verlangen?

  • Wie lange darf man schweigen, wenn man Fehler sieht, und wann muss man reden?

  • Wo beginnt die moralische Pflicht zum »Widerstand«?

  • Der Zwiespalt des denkenden Menschen zwischen Staatsräson und taktischen Zweifeln und dem Zwang zur Stellungnahme im Sinne des Fortschritts.

  • Die unabdingbare Pflicht zur Wahrheit.

Friedel wird weitgehend in der Organisierung der Zirkelarbeit durch Zimmermann unterstützt. Über Zimmermann erhielten Friedel und seine Anhänger umfangreiche Verbindungen zu Kulturschaffenden und Wissenschaftlern, wobei Zimmermann auch seine Wohnung zu Treffen zwischen diesen Personen zur Verfügung stellt. Überwiegend betrifft das solche Kreise der künstlerischen Intelligenz, die mit Form und Inhalt der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen durch das 11. Plenum des ZK nicht einverstanden waren. Zimmermann ist auch bestrebt, Clubveranstaltungen zu organisieren, die sich im Wesentlichen auf dekadente Kunst aus dem westlichen Ausland konzentrieren.

Die Bezirksleitung der SED Potsdam wurde durch die zuständige Bezirksverwaltung des MfS über diese Probleme informiert. Es ist vorgesehen, entsprechende politisch-ideologische Maßnahmen vonseiten der Bezirksleitung einzuleiten und die notwendigen Untersuchungen zu führen.

Vom MfS wurden die erforderlichen Maßnahmen zur weiteren Aufklärung dieser Erscheinungen und ihrer Initiatoren eingeleitet.

  1. Zum nächsten Dokument Lage beim Deutschen Fernsehfunk nach dem 11. ZK-Plenum

    9. Juni 1966
    Einzelinformation Nr. 443/66 über die Lage beim Deutschen Fernsehfunk nach dem 11. Plenum des ZK der SED

  2. Zum vorherigen Dokument Angaben über DDR-Leistungssport in der Westpresse

    6. Juni 1966
    Einzelinformation Nr. 429/66 über Angaben des ehemaligen Fußballspielers Ruhloff, 1. FC Magdeburg, zu Problemen des Leistungssportes im Fußball der DDR im westdeutschen Konsulat in Genf/Schweiz