NVA-Angehörige kontaktieren westdeutsche Beamte&Zivilisten
4. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 741/66 über Kontaktaufnahmen von NVA-Angehörigen der Grenzkompanie Großensee, Grenzregiment Eisenach, zu Angehörigen des westdeutschen Zoll- und Bundesgrenzschutzes sowie westdeutschen Zivilpersonen
Durch die Tätigkeit des MfS wurde bekannt, dass in der Zeit von April bis Mitte August 1966 zehn Angehörige der Grenzkompanie Großensee in den Postenbereichen
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Steinhäuser Mühle,
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Straße nach Kleinensee,
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Blockstelle Hönebach-Ost1 (am Bahnkörper der Strecke Bebra-Gerstungen)
während des Grenzdienstes Kontakt zu Angehörigen des westdeutschen Zoll- und Bundesgrenzschutzes sowie zu westdeutschen Zivilpersonen aufgenommen haben.
Bereits in den Jahren 1962 und 1964 waren in dieser Kompanie Kontaktaufnahmen mit gegnerischen Kräften aufgetreten, so dass einzelne Grenzsoldaten gerichtlich bzw. disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden mussten.
Die erneuten Kontaktaufnahmen erfolgten fast ausschließlich auf Initiative von NVA-Angehörigen, wobei vor allem der Postenführer Gefreiter [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Leipzig, [Straße, Nr.], als Organisator der Verbindungsaufnahme auftrat.
[Name 1] verleitete u. a. auch die Soldaten Heber2 und [Name 2] im Juni, Juli und August 1966 zu jeweils zwei Kontaktaufnahmen mit Angehörigen des BGS und des westdeutschen Zollgrenzdienstes. Die Verbindungsaufnahmen dienten hauptsächlich der Entgegennahme von Westzigaretten und Schundliteratur. Die Dauer der Kontaktaufnahmen belief sich auf 5 bis 15 Minuten, wobei außer den Begrüßungsworten lediglich über das persönliche Wohlergehen, die Heimatorte, die Urlaubsregelung und die Zeitdauer des Grundwehrdienstes sowie über den Sport, vor allem über die Fußballweltmeisterschaft,3 gesprochen wurde.
Bei einer Kontaktaufnahme des Gefreiten [Name 1] und Soldat Heber Mitte August 1966 an der Blockstelle Hönebach-Ost mit westdeutschen Zöllnern, erklärten diese den NVA-Angehörigen im Zusammenhang mit einer Fahnenflucht aus der Grenzkompanie Berka, nicht einen solchen Schritt zu tun, da sie es in Westdeutschland schwer hätten sich eine Existenz aufzubauen und ebenso arbeiten müssten wie in der DDR. Die Gefreiten [Name 1], [Name 3], [Name 4], [Name 5] und [Name 6] sowie die Soldaten Heber und [Name 7] waren im Zeitraum von Mai bis August 1966 an Kontaktaufnahmen mit westdeutschen Zivilpersonen beteiligt, wobei sie u. a. wiederholt von drei ca. 18-jährigen Mädchen aus der westdeutschen Ortschaft Kleinensee animiert wurden, die sich teilweise oder völlig entkleideten und zum Geschlechtsverkehr anboten. Durch die Angehörigen der NVA-Grenztruppen wurde jedoch in keinem Falle westdeutsches Territorium betreten.
Bei einer Ende Juli 1966 erfolgten Kontaktaufnahme verletzten Angehörige des BGS zu diesem Zwecke die Staatsgrenze der DDR in einer Tiefe von ca. 6 m und kamen bis unmittelbar an die Sicherungsanlagen heran. (Die Sicherungsanlagen sind in diesem Bereich ca. 6 m vom tatsächlichen Verlauf der Staatsgrenze zurückversetzt.)
Gezielte Fragen der gegnerischen Kräfte zum Erhalt von Spionageinformationen bzw. Aufforderungen zur Fahnenflucht erfolgten im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Kontaktaufnahmen nicht.
Im Verlauf der Untersuchungen wurde weiter festgestellt, dass eine große Anzahl von Angehörigen der Kompanie Großensee Westzeitungen, die aus den aus Westdeutschland kommenden Zügen geworfen wurden, sammelte und las. Durch die Posten wurden in der Nähe der durch den Kompaniebereich führenden Bahnstrecke Verstecke angebracht, in die die aufgefundenen Westzeitungen abgelegt wurden. Während des Grenzdienstes wurden die Zeitungen von den Postenpaaren gelesen und wieder in den Verstecken abgelegt.
In der Leitungs- und Kontrolltätigkeit der Kompanie auf militärischem Gebiet wurden keine Mängel oder Unzulänglichkeiten festgestellt, die derartige Vorkommnisse begünstigen. Die Postenkontrollen wurden regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt. Unterschätzt wurde jedoch die ständige politisch-ideologische Erziehung der Grenzposten, wodurch die an den Kontaktaufnahmen beteiligten Soldaten die Gefährlichkeit der Verbindungsaufnahmen zu den gegnerischen Kräften nicht erkannten.
Von den Beteiligten wurde besonders die geografische Lage der Grenzkompanie für die Kontaktaufnahmen ausgenutzt. Das Kompanieobjekt kann von den eigenen im Grenzdienst eingesetzten Postenpaaren wie auch vom Gegner völlig eingesehen werden. Aufgrund dieser Lage kann keine Kontrollstreife das Objekt verlassen, ohne von den im Einsatz befindlichen Grenzposten gesehen zu werden. (Die Genzkompanie galt als beste Kompanie im Regiment und sollte ausgezeichnet werden. Der Kompaniechef sollte auf Weisung des Ministers für Nationale Verteidigung, der Anfang August 1966 in der Kompanie Großensee weilte, außerplanmäßig zum Hauptmann befördert werden.)
Gegen die Hauptbeteiligten Gefreiter [Name 1], Postenführer, Gefreiter [Name 3], Postenführer, Soldat Heber, Posten, wurden durch den Militärstaatsanwalt Ermittlungsverfahren gemäß § 18 des Militärstrafgesetzes4 eingeleitet und die übrigen Kompanieangehörigen wurden entsprechend des Umfanges ihrer Beteiligung an den Kontaktaufnahmen disziplinarisch bestraft.