NVA-Missstände während eines Grenzdurchbruchs in Wartha
21. April 1966
Einzelinformation Nr. 315/66 über das Verhalten der NVA-Grenzposten beim gewaltsamen Grenzdurchbruch an der Grenzübergangsstelle Wartha am 15.4.1966 (Ergänzung zur Information 298/66)
Am 15.4.1966 gegen 23.30 Uhr erfolgte an der GÜST Wartha, [Bezirk] Erfurt ein gewaltsamer Grenzdurchbruch mittels Lkw, wobei die hinter dem Schlagbaum 4 in Richtung Westdeutschland gedeckt stationierten Posten der NVA/Grenze nach der Alarmauslösung nichts zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs unternahmen. Aus diesem Grunde wurden die Posten arretiert.
Die in diesem Zusammenhang vom MfS eingeleiteten Untersuchungen ergaben Folgendes:
Am 15.4.1966 von 16.00 bis 23.00 Uhr waren die Angehörigen des Sicherungszuges der Grenzübergangsstelle Wartha Gefreiter [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, NVA seit 3.11.1964 und Gefreiter [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1942, NVA seit 3.11.1964, am Posten 1 der GÜST Wartha, dem letzten vor der Staatsgrenze gelegenen Postenstand eingesetzt. Bei der Einweisung wurden sie von ihrem Gruppenführer nur allgemein mit ihren Aufgaben vertraut gemacht. Weder an diesem Tag noch in der Vergangenheit war ihnen konkret mitgeteilt und erläutert worden, wie sie im Alarmfall im Einzelnen zu handeln und von welchem Standort aus sie einen eventuellen Grenzverletzter auf der von der GÜST Wartha nach Westdeutschland führenden Verbindungsstraße zu bekämpfen haben. Unklarheit bestand besonders darüber, ob sie bei Alarm freund- oder feindwärts der letzten beweglichen Straßensperre Stellung beziehen sollten. Nachdem die Ablösezeit der beiden Posten bereits überschritten war, wurde gegen 23.30 Uhr mittels einer Sirene Alarm ausgelöst. Da beide Posten die Bedeutung des Signals nicht kannten, rief Gefreiter [Name 1] über das Grenzmeldenetz im Führungspunkt der GÜST an. Dabei erfuhr er vom diensthabenden Offizier Major Selditz,1 dass eine Person mittels Lkw den Schlagbaum bei Einfahrt in das 5-km-Sperrgebiet durchbrochen hat und sich der GÜST Wartha nähert. Major Selditz erteilte an [Name 1] den Befehl, mit seinem Posten Gefreiter [Name 2] an der linken Seite der beweglichen Straßensperre Stellung zu beziehen und die Sperre abzusichern. Der Befehl enthielt jedoch keine Festlegung, ob die Sperre freund- oder feindwärts abzusichern ist.
Nach Erhalt dieses Befehls begaben sich die Posten von der Sprechstelle aus über die nach Westdeutschland führende Verbindungsstraße und bewegten sich in einem neben der Straße verlaufenden, tiefer gelegenen Graben in Richtung der Sperre. Die Schräge der Böschung beträgt ca. 5 m, sodass sie aus dem Graben heraus die Straße nicht überblicken konnten. Circa 10 m freundwärts der Straßensperre legten sie sich an die Böschung – etwa 1,50 m unterhalb der Straßendecke. Dabei hörten sie, dass das Fahrzeug den ca. 150 m von ihnen entfernt gelegenen ersten Schlagbaum durchbrach. Kurz danach vernahmen sie auch das Durchbrechen des zweiten Schlagbaumes und das Ausfahren der etwa 50 m von ihrem Schlagbaum entfernten Straßensperre.
Zu diesem Zeitpunkt wurde von einen Zollangehörigen der GÜST – entgegen den bestehenden Weisungen – MPi-Feuer in Richtung Straßensperre eröffnet. Dadurch lagen die Posten [Name 1] und [Name 2] unmittelbar im Schussfeld des Zollangehörigen, so dass sie aus Angst, getroffen zu werden, sich an der Böschung nicht weiter hocharbeiteten.
Als das Fahrzeug auf die ca. 50 m entfernt liegende Straßensperre auffuhr, gab [Name 2] ebenfalls zwei Schüsse ab, ohne jedoch von seinem Standort aus den Vorkommnisort einsehen zu können.
Nachdem die Posten durch entsprechende Rufe der Zollangestellten vernahmen, dass der Grenzverletzter das Fahrzeug verlassen hat, liefen sie im Graben, also ohne Einsicht auf die vom Grenzverletzer offensichtlich benutzte Straße, feindwärts der Sperre in Richtung Staatsgrenze, um die Straße unmittelbar an der Staatsgrenze abzusichern. Inzwischen war auch Major Selditz bei den Posten eingetroffen, der den Befehl erteilte, in der vermutlichen Fluchtrichtung die Verfolgung des Grenzverletzers aufzunehmen. Diese Bemühungen verliefen jedoch ergebnislos, da sich der Grenzverletzter zu diesem Zeitpunkt bereits auf westdeutschem Territorium befand.
Nach den bisherigen Untersuchungen wurde der gewaltsame Grenzdurchbruch begünstigt:
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durch das Abziehen der am Einfahrtsschlagbaum stationierten Posten (Postenbereich 2) zu einer Schießübung, wodurch beim Durchbrechen des ersten Schlagbaumes kein Feuer eröffnet werden konnte
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durch das Fehlen des im Führungspunkt stationierten Gruppenführers, der ebenfalls zur Schießübung abgezogen worden war,
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durch ungenügende Einweisung und Klarheit der am Posten 1 eingesetzten NVA-Angehörigen,
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durch die unkorrekte und unklare Befehlsgebung des diensthabenden Offiziers der GÜST Major Selditz,
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durch die Feuerführung des Zollangestellten, der entgegen den in der Alarmordnung festgelegten Schusssektoren Feuer führte und dadurch die Posten Gefreiter [Name 1] und Gefreiter [Name 2] im Postenbereich 1 zeitweilig an der Bekämpfung des Grenzverletzers hinderte.
Zur Person der in der Information genannten Angehörigen des Sicherungszuges:
Gefreiter [Name 1] ist verheiratet und hat ein Kind. Er ist als stellvertretender Gruppenführer und Postenführer eingesetzt und versah seinen Dienst bisher gewissenhaft und diszipliniert. Aufgrund seiner guten Dienstdurchführung erhielt er zwölf Belobigungen; er wurde zweimal mit dem Bestenabzeichen ausgezeichnet und vorzeitig zum Gefreiten befördert. An der politischen Arbeit in seiner Diensteinheit beteiligte er sich jedoch wenig.
Gefreiter [Name 2] ist ledig. Er erfüllte seine dienstlichen Aufgaben bisher zufriedenstellend, musste jedoch einmal wegen mangelnder Wachsamkeit zur Verantwortung gezogen werden. Gegenüber seinen Vorgesetzten verhielt er sich teilweise undiszipliniert. Im Politunterricht stellte er häufig Mängel zur Diskussion, beteiligte sich aber nicht an der gesellschaftlichen Arbeit in der Einheit.
Aufgrund des Untersuchungsergebnisses wurde von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Gefreiten [Name 1] und [Name 2] Abstand genommen. Es wurde veranlasst, die Genannten aus der NVA/Grenze in eine andere Einheit der NVA zu versetzten.
Im Interesse der Beseitigung eventuell vorhandener gleicher oder ähnlicher Mängel und Missstände in anderen Einheiten der NVA/Grenze wird vorgeschlagen, dieses Vorkommnis unter dem Offiziersbestand der Grenztruppen auszuwerten.
Gegen den Kommandanten der GÜST Wartha, Major Süssmilch,2 der den Abzug der Sicherungskräfte zu der erwähnten Schießübung veranlasste, wird vom zuständigen Militärstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Dienstpflichten und Verletzung der Vorschriften über den Grenzdienst (§§13 und 18 MStG) eingeleitet.