Direkt zum Seiteninhalt springen

Reaktion der Bevölkerung auf SED–SPD Briefwechsel (1)

30. März 1966
[Erste] Einzelinformation Nr. 255/66 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Briefwechsel SED – SPD

Nach dem MfS vorliegenden Einschätzungen hat der Briefwechsel zwischen dem Zentralkomitee der SED und dem Parteivorstand der SPD1 unter allen Bevölkerungskreisen der DDR eine starke Reaktion ausgelöst. In allen Bezirken der DDR und in der Hauptstadt haben die Veröffentlichungen des »Neuen Deutschland« vom 26.3.1966 großes Interesse gefunden.2 Das zeigt sich u. a. darin, dass an einer großen Anzahl von Zeitungsartikeln besonders in der Hauptstadt der DDR bereits in den frühen Morgenstunden bzw. kurz nach Öffnung derselben das »ND« ausverkauft war. Mehrfach wurde bedauert, dass gleiche Publikationen nicht auch in den übrigen Tageszeitungen der DDR – besonders – Bezirks- und Kreispresse – erfolgt seien.

Zum überwiegenden Teil verläuft die Diskussion über den Briefwechsel in einem positiven und zustimmenden Sinne. Dabei wird die Initiative der SED-Führung gewürdigt, durch die erst ein Briefwechsel zustande gekommen sei. Es wird hervorgehoben, durch die Sachlichkeit und Beharrlichkeit der Politik der SED – wobei auch auf frühere Bemühungen, mit der SPD ins Gespräch zu kommen, verwiesen wird – sei die SPD-Führung zumindest zu einer Reaktion veranlasst worden. Die Vergangenheit zeige, dass die Initiative zur gegenseitigen Annährung und zur Lösung der Deutschlandfrage immer wieder von der SED ausgegangen sei. Das beweise auch der Offene Brief vom 7.2.1966, der von großen Teilen der Bevölkerung der DDR, aber auch unter der Bevölkerung Westdeutschlands begrüßt worden sei. Demgegenüber sei offensichtlich, dass die SPD-Führung an einem ehrlichen Gespräch nicht interessiert ist.

Mehrfach wird die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass der begonnene Briefwechsel den Anfang für einen weiteren Briefwechsel bzw. für Gespräche bilden möge.

Bezüglich des Inhalts der Dokumente der SED wird in den Diskussionen vor allem gewürdigt, dass die SED die Erhaltung des Friedens und die Forderung nach Verständigung sowie die Frage in den Mittelpunkt stellt, wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen soll. Die Vorschläge im Offenen Brief vom 7.2.1966 werden als reale Verhandlungsbasis bezeichnet.

Allerdings muss eingeschätzt werden, dass das Interesse am Inhalt des Offenen Briefes der SED bei Teilen der Bevölkerung der DDR erst mit Veröffentlichung des Antwortschreibens der SPD gewachsen ist.3 Erst dadurch hätten sich viele Bürger, die den Inhalt des Offenen Briefes nicht kannten, über dieses Dokument informiert.

Einen breiten Raum in den Diskussionen bei der Bevölkerung der DDR nimmt das Antwortschreiben der SPD ein. Zum überwiegenden Teil werden die Darlegungen der SPD als unsachlich, anmaßend und herausfordernd bezeichnet und besonders die sieben Fragen der SPD als provokatorisch angesehen.4 Dabei wird bedauert und kritisiert, dass im Antwortschreiben der SPD nicht auf die im Offenen Brief aufgeworfenen Grundfragen reagiert wird. Aus dem Dokument der SPD werde die Ablehnung eines gegenseitigen Meinungsaustausches und die Ignorierung jeglicher Annährungsvorschläge offensichtlich.

Als außerordentliche Unhöflichkeit wird die Tatsache eingeschätzt, dass das Antwortschreiben der SPD ohne Anrede und Unterschrift übersandt worden ist.

Wiederholt wird, u. a. auch von ehemaligen SPD-Mitgliedern, eingeschätzt, mit dem Dokument der SPD sei der Beweis erbracht worden, dass sich der SPD-Vorstand von den Interessen der Werktätigen losgesagt und sich den Thesen der CDU unterworfen habe.

In diesem Zusammenhang wird bezweifelt, ob das Antwortschreiben der SPD-Führung die tatsächliche Meinung der Mitglieder der SPD widerspiegelt.

Häufig wird auf die bisherige Rolle der SPD in der Geschichte Deutschlands verwiesen und dabei hervorgehoben, dass die SPD-Führung Westdeutschlands diese »Tradition« fortsetzen und auch jetzt wieder die Interessen der Arbeiterschaft und ihrer Mitglieder verraten würde.5 Verwunderlich wäre allerdings – so heißt es mehrfach –, dass viele SPD-Mitglieder trotz Kenntnis der geschichtlichen Rolle ihrer Partei zu diesen Vorgängen schweigen und keinen hörbaren Einspruch erheben würden. Es sei auch bedauerlich, dass die SPD bisher keine eigene Konzeption in der Deutschlandfrage besitze, die den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland Rechnung trägt.

In Anbetracht der Antwort und der Haltung der SPD-Führung sind Zweifel, wonach es überhaupt zu einer Annährung zwischen beiden Arbeiterparteien und zu ersten Gesprächen kommen könnte, in allen Schichten der Bevölkerung der DDR verbreitet. Skepsis besteht im Hinblick darauf, ob das ZK der SED bei Beibehaltung des provokatorischen Tones und bei einem Beharren der SPD auf ihrer Plattform der Negierung der Grundfragen einen weiteren Briefaustausch überhaupt für zweckmäßig erachtet.

Im Einzelnen findet unter der Bevölkerung der DDR besonders die sogenannte sechste Frage im Antwortschreiben der SPD-Führung Beachtung.6 Auch ehemalige SPD-Mitglieder, Angehörige der Intelligenz und des Mittelstandes und solche Personen, die sonst teilweise eine abwartende oder ablehnende politische Haltung einnehmen, verwahren sich gegen die Unterstellung, »die SED spiele mit dem Krieg«. Hier sei offensichtlich, dass es sich um Verleumdungen handle, da der Friedenswille der DDR für alle augenscheinlich sei, in Westdeutschland dagegen durch die herrschenden Kreise eine unverhohlene Politik des Krieges betrieben werde. Politisch interessierte Personen aus diesen Kreisen der Bevölkerung verweisen in diesem Zusammenhang auf die Verlautbarung Adenauers7 auf dem letzten CDU-Parteitag,8 die SU wolle und brauche den Frieden und argumentieren: Selbst die reaktionäre Bonner Regierungspartei bescheinige der mächtigen SU Friedensabsichten; die SPD unterstelle hingegen der »kleinen und an Einfluss geringen DDR« Kriegsabsichten. Allein ein solcher »Vergleich« sei absurd und eventuell nach vorhandener Popularität und Sympathie zur SPD geradezu abträglich.

In einer großen Anzahl von Argumenten wird bezüglich des Antwortschreibens der SED hervorgehoben, die Abfassung des Dokumentes zeichne sich trotz aller Verleumdungen im Brief der SPD durch Höflichkeit und große Sachlichkeit aus. Die Antwort der SED sei sehr schnell erfolgt und habe damit vermutlich die SPD-Führung schockiert. Die darin enthaltenen Argumente seien sehr treffsicher und würden damit die Thesen und Anwürfe der SPD entkräften. Es sei beachtlich, dass auch weiterhin die Grundkonzeption der SED mit dem Ziele der Annährung verfolgt werde.

Sehr aufgeschlossen werden in allen Kreisen der Bevölkerung die konkreten Vorschläge für eine Annährung, besonders hinsichtlich gemeinsamer Veranstaltungen in Karl-Marx-Stadt und Essen diskutiert.9 Während vorwiegend Übereinstimmung über die Gewähr der persönlichen Sicherheit für den Vertreter der SPD in Karl-Marx-Stadt besteht, wird gleichzeitig die Befürchtung geäußert, diese Sicherheit könnte in Essen nicht garantiert werden, und das Risiko für den SED-Funktionär könnte zu groß sein. In Einzelfällen werden Spekulationen über den zu benennenden Vertreter der SED für die Veranstaltung in Essen angestellt, wobei mehrfach der Genosse Norden10 als am geeignetsten und fähigsten bezeichnet wird.

Zweifel werden hinsichtlich einer umfassenden Veröffentlichung des Antwortschreibens in der Westpresse erhoben.

Von Mitgliedern der SED wurde bekannt, dass sie sich ablehnend zur Veröffentlichung der SPD-Antwort äußerten. Die Arbeit der Propagandisten würde dadurch erschwert. Es werde aber auch teilweise von ihnen anerkannt, die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung und die Stabilität der DDR sei so weit fortgeschritten, dass die Parteiführung den Bürgern eine politisch-reale Beurteilung der Dokumente zutraue.

Neben den überwiegend zustimmenden Meinungsäußerungen werden jedoch auch eine Reihe ideologischer Unklarheiten in der Argumentation der Bevölkerung der DDR deutlich.

Sie beziehen sich im Wesentlichen auf Fragen, ob es nicht doch »zweckmäßiger« gewesen wäre, noch stärker auf die Detailfragen des SPD-Schreibens einzugehen. Dabei wird geschlussfolgert, eine Annährung sei eher möglich, wenn beide Seiten »einen Schritt zurück gingen«. Weitere Unklarheiten bestehen über die Rolle der Nation und die Rolle der Arbeiterklasse und der SPD in Westdeutschland.

Eine Anzahl Argumente in diesem Zusammenhang lassen aber auch eindeutig den Einfluss westlicher Sender erkennen und beinhalten im Wesentlichen:

Der Offene Brief stelle lediglich eine »neue taktische Variante«, eine »propagandistische Reaktion« bzw. eine »politische Kampagne« dar, bei der die SED-Führung in Anbetracht früherer Aktionen nicht mit einer Antwort der SPD-Führung gerechnet habe. Der Abdruck der SPD-Antwort sei dann lediglich aus »moralischem Zwang« erfolgt.

Der Einfluss der Zentren der politisch-ideologischen Diversion11 ist auch insofern zu spüren, als aus negativen und ablehnenden Auffassungen zu ersehen war, dass ihre Träger sich bereits über die Antwort des SPD-Vorstandes vor ihrer Veröffentlichung im »ND« unterrichtet zeigten.

In ihrer Argumentation versuchen diese Personen, der SED unlautere Absichten zu unterstellen und die Bedeutung sowohl des Offenen Briefes als auch des Antwortschreibens der SED herabzuwürdigen. Demgegenüber bezeichnen sie den Brief des SPD-Vorstandes und die darin enthaltenen Parolen als »richtungsweisend« und »vordringlich«. Von besonderem Interesse sind für diesen Personenkreis dabei die im SPD-Brief aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Reiseverkehrs sowie der »Mauer« und des »Schießbefehls«.12 In Anlehnung an die im westlichen Rundfunk und in Fernsehsendungen verbreiteten Parolen wird von diesem Personenkreis erklärt, eine Entscheidung im Sinne der SPD-Forderungen wäre für die SED unumgänglich. Erst damit würde eine »Grundlage für das gesamtdeutsche Gespräch« geschaffen. Die SPD wäre entgegen den Behauptungen der SED doch eine »Arbeiterpartei«, da sie sich für die Belange der Werktätigen einsetze.

Neben dieser negativen Argumentation nehmen zurzeit solche Diskussionen immer mehr zu, in denen zwar der Ton des SPD-Briefes und die darin enthaltene Ignorierung der SED-Vorschläge verurteilt werden, in denen aber gleichzeitig die Parolen bezüglich des Reiseverkehrs, des »Schießbefehls« und der Berliner-Staatsgrenze eine gewisse Resonanz finden. Dabei wird in Erwägung gezogen, dass die SED doch aus dem »humanistischen Anliegen« heraus den Reiseverkehr nach Westdeutschland und Westberlin gestatten sollte. Damit würden den Werktätigen mehr »Freiheitsrechte« und »Selbstbestimmung« eingeräumt und »unzumutbare Härten« beseitigt.

Mehrfach wird die Vorstellung entwickelt, SED und SPD sollten eine »Übereinkunft« treffen, wonach den Reisenden im Besucherland kein ständiger Wohnsitz gewährt werden dürfte. Damit könne der SPD-Vorstand der DDR auch hinsichtlich »befürchteter Republikfluchten« entgegenkommen.

Ebenfalls sollte sich die SPD, nach diesen Vorstellungen, dafür einsetzen, dass von Westdeutschland und Westberlin aus Hetze und Gewaltanwendung gegenüber unserer Staatsgrenze unterbleiben.

Unklarheit kommt in mehreren Argumenten darüber zum Ausdruck, ob es notwendig sei, »Schießbefehl« und »Minenfelder« an der Staatsgrenze West beizubehalten. Es wird die Frage gestellt, inwieweit diese Tatsachen nicht doch ein gesamtdeutsches Gespräch behindern könnten.

Dabei zeigt sich, dass teilweise – auch in Arbeiterkreisen – zwar die SPD-Antwort voll inhaltlich bekannt ist, jedoch nur ungenügende Kenntnisse über den Offenen Brief und das Antwortschreiben der SED bestehen. (Im Bezirk Karl-Marx-Stadt z. B. wurde in einigen Betriebsversammlungen zum politischen Gespräch mit der SPD nur das Antwortschreiben der SPD verlesen, ohne auf die Dokumente der SED näher einzugehen.)

In Berlin treten mit Veröffentlichung des SPD-Dokumentes und im Zusammenhang mit dem laufenden 4. Passierscheinabkommen13 verstärkt Meinungsäußerungen in Erscheinung, in denen die Aufnahme eines Besucherverkehrs nach Westberlin gefordert wird.

  1. Zum nächsten Dokument Passierscheinerteilung zu Ostern/Pfingsten (2)

    4. April 1966
    2. Bericht Nr. 263/66 über den Verlauf des 4. Passierscheinabkommens Ostern/Pfingsten 1966

  2. Zum vorherigen Dokument Republikfluchtverdacht gegen einen Kanusportler in Berlin

    30. März 1966
    Einzelinformation Nr. 254/66 über den Verdacht der Republikflucht des Kanusportlers [Name 1, Vorname] / TSC Berlin