Reaktion der Bevölkerung auf SED–SPD Briefwechsel (2)
12. April 1966
Zweite Einzelinformation Nr. 275/66 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Briefwechsel SED – SPD
Nach den vorliegenden Einschätzungen besteht im Allgemeinen auch weiterhin ein beachtliches Interesse an dem Briefwechsel SED – SPD,1 die Diskussionen darüber sind jedoch in den letzten Tagen etwas zurückgegangen.
Dagegen treten zurzeit Diskussionen über die Einführung der 45-Stunden- bzw. Fünf-Tagewoche sowie zu den damit zusammenhängenden Problemen der Arbeitszeitregelung, der Ladenöffnungszeiten und des Berufsverkehrs stärker in den Vordergrund.2
Zum Briefwechsel SED – SPD wird im Allgemeinen das starke Interesse an der Weiterführung des Dialogs betont.
Verbreitet wird Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Veröffentlichung des Briefwechsels bisher nur im »Neuen Deutschland« erfolgte, obwohl im Zusammenhang mit dem Abdruck der Dokumente ein Anwachsen des Informationsbedürfnisses zu verzeichnen sei.3
Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang festgestellt, dass teilweise auch Mitglieder der SED das »ND« nicht abonniert haben und sich konkrete Kenntnis über die Dokumente durch gegenseitigen Austausch des »ND« verschafften.
In einigen Parteileitungen – z. B. der Obersten Bauleitung für die Elektrifizierung der Deutschen Reichsbahn – wurde die Vervielfältigung des bisherigen Briefwechsels in Erwägung gezogen, da nicht alle Genossen im Besitz des »ND« wären.
Neben Äußerungen aus allen Kreisen der Bevölkerung, den Briefwechsel auch in den Kreis- bzw. Bezirkszeitungen zu veröffentlichen, werden von Mitgliedern der Blockparteien verstärkt Forderungen nach Veröffentlichung des Dialogs zwischen SED und SPD in den Publikationsorganen ihrer Parteien laut.
Besonders von interessierten DBD-Mitgliedern wird dieser Vorschlag verstärkt aufgegriffen mit der Begründung, in ländlichen Gebieten sei die Mitgliedschaft zur DBD erheblich, dagegen seien jedoch die Abonnements des »ND« gering.
Vereinzelt werden Überlegungen angestellt, das »ND« zu abonnieren, da eine Fortführung des Dialogs und weitere entsprechende Veröffentlichungen im »ND« für möglich gehalten werden.
In einigen Fällen wurden Spekulationen über die Anzahl der veröffentlichten Exemplare zum Briefwechsel in der DDR und in Westdeutschland angestellt. Hervorgehoben wird, dass in Westdeutschland/Westberlin die Publizierung des Briefwechsels in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften erfolgt sei, wogegen der Abdruck desselben in der DDR nur in einer Zeitung erfolgt ist.4
Die Diskussionen über den Briefwechsel verlaufen zum überwiegenden Teil auch weiterhin in einem positiven und zustimmenden Sinne.
Die Initiative zum Zustandekommen des Briefaustausches, die Sachlichkeit und Beharrlichkeit der Politik und die Zielstrebigkeit in der Darlegung der Grundprobleme durch die Führung der SED werden anerkannt und wiederholt hervorgehoben.
Große Teile der Bevölkerung der DDR geben zum Inhalt der SED-Dokumente ihre Zustimmung und betonen die Übereinstimmung mit den in den Briefen der SED umrissenen Auffassungen. Sie versprechen sich eine Fortführung des Dialogs und zumindest erste Schritte einer Annäherung auf dem Wege einer Wiedervereinigung.
Umfangreicher treten jedoch auch solche Argumente auf, aus denen die Skepsis über Möglichkeiten eines weiteren Briefwechsels zwischen SED und SPD und einer ehrlichen Verständigungsbereitschaft seitens der SPD-Führung ersichtlich wird.
Abgeleitet werden diese Auffassungen von dem Inhalt und den Ton der SPD-Verlautbarung, die in höchstem Maße als provokatorisch und aggressiv angesehen werden. Offensichtlich würden auch die im Offenen Brief der SED dargelegten Grundprobleme negiert werden.
Unter Hinweis auf die bekannte Rolle der SPD in der bisherigen Geschichte wird geschlussfolgert, dass eine Verhandlungsbasis mit diesem Partner nicht erreicht werden könne.5
Hinsichtlich des Erfolgs des Briefwechsels treten verstärkt skeptische Äußerungen dahingehend auf, ob die SED auf dieser Grundlage den Dialog überhaupt weiterführen werde.
Nach vorliegenden Berichten muss eingeschätzt werden, dass die am Briefwechsel interessierten Personen in ihrer Argumentation überwiegend vom Antwortbrief der SPD ausgehen.
Häufig ist dabei die Unkenntnis der im Offenen Brief der SED sowie im Antwortbrief der SED dargelegten Problematik erkennbar. Diese Bürger geben auch zu erkennen, die Veröffentlichung eines derartigen Dokumentes einer westdeutschen Partei in der DDR-Presse sei »ungewöhnlich« und deshalb von besonderem Interesse; die in den SED-Dokumenten dargelegten Probleme dagegen seien »geläufig« und brauchten deshalb nicht so eingehend beachtet werden. In den Diskussionen dieser Personen wird jedoch – trotz der Behauptung der angeblichen »Geläufigkeit« der Standpunkte der SED – häufig Unkenntnis über die Grundfragen der Politik der SED und ihrer Darstellung in den zwei Schreiben an die SPD sichtbar.
In anderen Fällen wird argumentiert, die Briefe der SED seien zu umfangreich, sodass von vornherein das Interesse für diese Dokumente verloren gehe. Außerdem sei die Problemstellung von Anfang an zu sehr auf »die große Weltpolitik« abgestimmt und zeige den Verhältnissen in Deutschland entsprechend nur eine »ungenügende Sachbezogenheit«.
Die Diskussionen unmittelbar zum Antwortbrief der SPD verurteilen überwiegend die darin enthaltenen Gesichtspunkte und offenen Provokationen. Häufig wird die Frage gestellt, ob die SPD überhaupt noch als »Arbeiterpartei« bezeichnet werden könne. Die ehrliche Verhandlungsbereitschaft der SPD wird angezweifelt und der Inhalt des Briefes als »Sympathiefang« bezeichnet.
Es mehren sich jedoch Argumente, wonach es der SPD-Führung angeblich gelungen sei, in der DDR eine »Diskussion« in ihrem Sinne in Gang zu bringen. Die Ursache bestünde darin, dass die SPD-Führung in ihrem Brief unmittelbar interessierende und humanitäre Probleme aufgegriffen habe.
Bei Beibehaltung dieser Konzeption sei es möglich – so argumentieren u. a. ehemalige SPD-Mitglieder –, dass sich die SPD in Westdeutschland zur führenden Partei entwickeln und auch in der DDR »Anhänger« finden könne.
Aus einer Reihe von Meinungsäußerungen von DDR-Bürgern ist offensichtlich, dass bei diesen Diskussionen negativen Inhalts über den Briefwechsel der Einfluss der Zentren der politisch-ideologischen Diversion6 eine erhebliche Rolle spielt. Die entsprechenden Parolen der westlichen Rundfunk- und Fernsehsender werden teilweise offen oder versteckt verbreitet.
Einen größeren Umfang haben in der gesamten Diskussion dabei die Fragen in nachfolgender Reihenfolge angenommen:
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Diskussionen über den Reiseverkehr DDR/Westdeutschland/Westberlin
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das Bestehen der Staatsgrenze West, besonders auch der Staatsgrenze Westberlin
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die Existenz eines »Schießbefehls«7 bzw. eines »Minengürtels« entlang der Staatsgrenze
Argumente über den Reise- bzw. sogenannten Freizügigkeitsverkehr nehmen den größten Umfang ein. Obwohl dabei von großen Teilen dieser Diskussionsträger die Objektivität der Staatsgrenze anerkannt wird, wird der »Vorschlag« der SPD über die »Herbeiführung eines freien Reiseverkehrs« lebhaft begrüßt. Nur durch Schaffung derartiger »Grundlagen« für ein Gespräch SPD – SED sei eine Annäherung möglich. Der »Vorschlag« der SPD entspreche dem »humanitären Anliegen«, von dem in der DDR angeblich »viel geredet«, nach dem aber »nicht gehandelt« werde. Bei Beibehaltung dieses »harten Kurses« durch die SED sei auch mit einer Aufnahme der DDR in die UNO nicht zu rechnen.8
Mehrfach wird auf sogenannte Härten verwiesen, wonach DDR-Bürgern dringende Verwandtenbesuche nach Westdeutschland/Westberlin u. a. bei Krankheits- oder Todesfällen von den staatlichen Organen der DDR verwehrt worden seien.
In verstärkten Umfang werden Argumente verbreitet, beide deutsche Staaten müssten die Rückkehr jedes Besuchers zusichern. Damit könnte auch einer eventuellen Zunahme des Arbeitskräftemangels durch Republikfluchten vorgebeugt und die »wahre Ursache« des durch die SED »verhinderten Reiseverkehrs« beseitigt werden.
In der Hauptstadt der DDR mehren sich – im Zusammenhang mit dem laufenden Passierscheinabkommen9 – Meinungen, wonach auch uneingeschränkte Besuche nach Westberlin ermöglicht werden.
Die Diskussionen über »Schießbefehl« und »Minenfelder« an der Staatsgrenze haben gegenüber der Anfangsperiode ebenfalls weiter zugenommen. Diese Maßnahmen werden als »unmenschlich« und »unzumutbar« bezeichnet. Wiederholt wird dadurch zum Ausdruck gebracht, die SED würde letztlich doch nicht um die Aufhebung derartiger »Anweisungen« umhinkommen. In Einzelfällen werden sogenannte Vergleiche angestellt, nach denen in der DDR zwar ehemalige Nazis, die am Tode wehrloser Menschen schuld seien, verurteilt würden; in der Praxis sehe es aber so aus, dass auch an der Staatsgrenze auf wehrlose Menschen, darunter auf Frauen, Kinder und Jugendliche, geschossen würde. Eine solche Politik könnte sich auf die Dauer nicht durchsetzen; sie schwäche die internationale Position der DDR.
Es würde begrüßt werden, wenn die SPD an diesen »Forderungen« festhalte und damit auch »Ergebnisse« erzielen könnte. Die SED habe zwar an die SPD »große Forderungen« gestellt, müsste aber selbst »Voraussetzungen« dafür schaffen, was sich vor allem auf die Beseitigung des antifaschistischen Schutzwalls10 und die Anwendung der Schusswaffe beziehe.
Diese insbesondere von westlichen Sendern verbreiteten Tendenzen in der Argumentation werden teilweise auch in Betriebsversammlungen über den Dialog SED – SPD offen vertreten (u. a. im VEB MAW Magdeburg, im Lehrerbildungsinstitut Staßfurt).
In der Diskussion zum Briefwechsel SED – SPD sind weiter folgende Probleme beachtenswert:
In einer Reihe von Diskussionen werden »Vergleiche« zwischen dem Bestehen der SED in Westberlin und dem »Verbot« der SPD in der Hauptstadt der DDR gezogen.11 Von einigen Diskussionsträgern werden dabei Meinungen hochzuspielen versucht, das »Verbot« der SPD sei – da es sich bei der SPD um eine »Arbeiterpartei« handele, mit der die SED zu verhandeln beabsichtige – ungerechtfertigt geschehen.
Die SPD bringe die SED in eine Lage, ihre »Forderungen« zu veröffentlichen. Offenbar hat sich diese »Entwicklung« daraus ergeben, dass die SED nicht mit einer Reaktion auf den Offenen Brief gerechnet habe. (In diesem Zusammenhang vertreten Teile der Bevölkerung aber auch die Ansicht, die SED sei in der Bevölkerung der DDR so weit verankert und das politische Bewusstsein der DDR-Bürger sei im Allgemeinen so weit gewachsen, dass sich die Partei derartige Veröffentlichungen leisten könne.)
Der Briefwechsel beweise jedoch, dass die DDR durch Westdeutschland zu »Teilzugeständnissen« – das heißt zum Abdruck von »Argumenten«, die das »ND« unter normalen Umständen nicht bringen würde –, »gezwungen« werden könnte.
Da ein starkes Interesse am weiteren Dialog bestehe und die Bevölkerung der DDR durch das Abhören westlicher Sender inoffiziell von weiteren Antwortschreiben der SPD Kenntnis erhalte, wäre das »ND« »gezwungen«, auch weitere Schreiben der SPD zu veröffentlichen. Es sei anzunehmen, dass die SPD-Führung diese »Umstände« ausnütze, um weitestgehend ihre »Absichten« zu verbreiten und die gegenwärtig entfachte Diskussion in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu steuern.
Durch die Veröffentlichung der SPD-Antwort sei eine solche Lage entstanden, dass das »ND« gleiche »Parolen« abdrucke wie sie auch »RIAS« und Westfernsehen verbreiten würden (u. a. Argumente unter Studenten und in Oberschulen).
In Einzelfällen wurde von negativ eingestellten Personen provokatorisch geäußert, es bestehe jetzt keine Handhabe mehr, Personen strafrechtlich zu verfolgen, die »den Inhalt des SPD-Briefes« verbreiten.
Geringen Umfang nehmen Argumente ein, in denen die Wiederherstellung der ehemaligen »deutschen Ostgrenzen« gefordert wird.
Weiter werden von einigen Bürgern in verschiedenen Bevölkerungsschichten Fragen über »freie« bzw. »geheime Wahlen«, bei denen jeder Bürger »seinen« Staat und »seine« Partei wählen könne, aufgeworfen. Dabei wird eine »freie Meinungsäußerung« gefordert und behauptet, diese »Rechte« seien in Westdeutschland verwirklicht.
Vermehrt treten Argumente über einen sogenannten Führungsanspruch, den die SED im Gegensatz zu ihren Behauptungen doch erhebe, auf. Das beweise nicht nur die Besetzung führender staatlicher Positionen durch SED-Funktionäre, sondern auch die »Nichtzulassung« von Vertretungen der Blockparteien in Betrieben, Stadtteilen und Gemeinden.
In den letzten Tagen werden unter der Bevölkerung der DDR verstärkt die Parolen der Feindsender verbreitet, wonach im Zusammenhang mit dem Briefwechsel SPD – SED unter den Politbüromitgliedern Differenzen aufgetreten seien. Auf der Grundlage der von den Feindsendern verbreiteten Meldungen wird erklärt, insbesondere die Genossen Fröhlich12 und Honecker13 hätten sich gegen eine Veröffentlichung der SPD-Antwort ausgesprochen. Genosse Fröhlich sei gegen eine Aufnahme jeglicher Kontakte zur SPD und habe diese Meinung bereits vor dem 11. Plenum der SED14 vertreten.
In Auswirkung dieser »Differenzen« sei auf dem 11. Plenum auch keine klare Beschlussfassung zur Erweiterung der Kontakte mit Westdeutschland erfolgt.
Aus einer Reihe Meinungsäußerungen ist erkennbar, dass häufig noch eine genaue Sachkenntnis über den Inhalt des Antwortbriefes der SED fehlt.
Trotz überwiegend positiver und zustimmender Diskussion zum Antwortbrief der SED – bei denen die Beibehaltung der Grundsatzforderungen, die sachliche Abfassung und Reaktion auf den SPD-Brief anerkannt werden – werden von bestimmten Diskussionsträgern abwertende Äußerungen bekannt. Danach gehe der Antwortbrief der SED an allen von der SPD gestellten und die Menschen bewegenden Fragen vorbei. Es erfolge eine »dauernde Umschreibung«, und ein »Entgegenkommen« sei nicht sichtbar. Der Brief sei ein »Rechtfertigungsversuch«, und lenke nur auf »Fragen der Weltpolitik«. Es erfolge auch keine Klärung der brennendsten Probleme in Deutschland.