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Reaktion der Bevölkerung auf SED–SPD Briefwechsel (3)

20. Juni 1966
Einzelinformation Nr. 467/66 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Briefwechsel SED – SPD

Nach den vorliegenden Einschätzungen besteht unter der Bevölkerung der DDR im Allgemeinen auch weiterhin ein starkes Interesse am Dialog SED – SPD.1 Die Diskussionen zu diesen Problemen nehmen – im Vergleich zu anderen politischen Tagesfragen – den größten Umfang ein.

Es ist jedoch einzuschätzen, dass die ersten veröffentlichten Materialien des Dialogs von allen Schichten der Bevölkerung mit noch größerer Aufmerksamkeit studiert wurden, während an weiteren Veröffentlichungen bei Teilen der Bevölkerung ein gewisses Desinteresse spürbar ist. Als Begründung für das teilweise nachlassende Interesse wird angeführt, dass sich die Probleme in den Veröffentlichungen wiederholen würden, ohne dass bisher eine Annäherung der Standpunkte zu erkennen sei. Die Darlegungen erfolgten außerdem zu »ausführlich« und zu »breit«, so dass das Studium der Ausarbeitungen »ermüde«.

Obwohl sich der SPD-Vorstand in seinen Offenen Briefen »kürzer gefasst« und »auf das wesentliche beschränkt« habe, sei der 1. Offene Brief von der Bevölkerung der DDR mit noch größerer Aufmerksamkeit aufgenommen worden, als der 2. Offene Brief der SPD, weil er sich in vielen Fragen wiederhole und »Sensationen« ausgeblieben seien.

Obwohl unter diesem Aspekt die Diskussion der Bevölkerung der DDR zum Inhalt der Offenen Briefe im Vergleich zum Beginn des Dialogs allgemein etwas nachgelassen hat, finden die Gespräche und Verhandlungen zur Vorbereitung der zwei Versammlungen in Karl-Marx-Stadt und Hannover stärkere Beachtung, so dass die Reaktion der Bevölkerung unmittelbar zu diesem Problem breiter geworden ist.2

Einschätzend zum Umfang und Inhalt der Argumente der Bevölkerung ist festzustellen, dass die politisch positiven und zustimmenden Meinungen auch weiterhin stark überwiegen.

Dabei wird der Dialog allgemein bejaht und herausgestellt, es sei außerordentlich nützlich, dass überhaupt ein Gespräch zwischen Ost und West zustande gekommen sei, nachdem nach der bisherigen Entwicklung und nach den Erfahrungen mit dem SPD-Parteivorstand mit einem Meinungsaustausch nicht gerechnet worden sei. Das Interesse, das an einer Weiterführung des Dialogs besteht, wird von großen Teilen der Bevölkerung betont. Unterstützung findet die Politik unseres Zentralkomitees, Kontakte nicht nur auf oberer Parteiebene zu unterhalten, sondern sie ebenfalls auf die mittlere und untere Parteiebene auszudehnen. Begründet wird diese Einstellung damit, dass die Politik der SPD-Führung nicht mit den politischen Ansichten der SPD-Mitglieder übereinstimme. In Einzelfällen wird allerdings auch eingeschätzt, die »Kontaktpolitik« verlaufe letztlich doch ohne Resultate und werde lediglich aufrechterhalten, um »das Gesicht« vor den Mitgliedern der SED und der Bevölkerung »zu wahren«.

Die zustimmenden Argumente der Bevölkerung zu den Problemen des Dialogs beinhalten gegenwärtig im Wesentlichen folgende Tendenzen:

  • Bejahung des Dialogs und der gegenseitigen Entwicklung dieser Politik unter Federführung des Zentralkomitees der SED überhaupt.

  • Grundsätzliche Zustimmung zur und Anerkennung der Initiative der SED.

  • Einverständnis mit der Strategie und Taktion der Politik der SED bei der Behandlung der durch den Meinungsaustausch entstandenen Probleme.

  • Anerkennung der »Kontaktpolitik« der SED im positiven Sinne.

  • Würdigung der Sachlichkeit und Beharrlichkeit der Politik der SED.

  • Zustimmung zur Fortführung der Verhandlungen bzw. Vorbereitungen, die Versammlung in Karl-Marx-Stadt betreffend.

  • Anerkennung der Friedensinitiative und der Politik des Friedens und der Verständigung.

  • Einverständnis mit den Darlegungen der Konzeption der Deutschlandpolitik.

In größerem Umfang wird auch weiterhin die Haltung des SPD-Parteivorstandes verurteilt, wobei in immer stärkerem Maße betont wird, dass die Haltung nicht mit der Gesinnung der SPD-Mitglieder übereinstimmen könnte. Nach dem Dortmunder SPD-Parteitag3 sei die CDU-Hörigkeit der SPD-Führung noch offensichtlicher geworden. In diesem Zusammenhang und unter Bezugnahme auf die verräterische Rolle der SPD in der Vergangenheit4 nehmen in letzter Zeit die Zweifel zu, ob durch den Dialog eine Annäherung erreicht werde.

Die Ablehnung der Haltung der SPD-Führung durch einen größeren Teil der Bevölkerung der DDR äußert sich hauptsächlich in folgenden Argumenten, in denen die Darlegungen der SPD verurteilt werden:

  • Unsachlichkeit und Weitschweifigkeit der Argumente der SPD.

  • Beharren auf der Politik der »kleinen Schritte«; »Ablenkungsmanöver« durch die Politik der »kleinen Schritte«.5

  • Ignorierung und Diskriminierung der von der SED-Führung aufgeworfenen Grundsatzfragen der Deutschlandpolitik.

  • Die »politische Engstirnigkeit« der SPD-Führung in Fragen der Gewährleistung eines »freien Geleits« für die SED-Funktionäre, wobei häufig bereits die Tatsache, dass ein »freies Geleit« erst mit der Durchsetzung einer entsprechenden Gesetzesvorlage zugesichert werden kann, auf Ablehnung bzw. Erstaunen oder Unverständnis stößt.6

  • (In diesem Zusammenhang tritt jedoch auch häufiger die Frage auf, welche Einzelheiten und welche Bedeutung sich hinter der Festlegung »freies Geleit« verbergen.)

  • Widersprüchlichkeit und Demagogie in der Politik der SPD hinsichtlich der Fortführung von Kontakten und der Vorbereitung der Versammlung in Hannover.

Besonders auch unter diesen Aspekten haben sich Zweifel an der Nützlichkeit des Dialogs sowie der geplanten zwei Versammlungen verstärkt. Dabei wird geäußert, die Gegensätze zwischen den beiden Parteien seien zu erheblich und die Korruption der SPD sei so weit fortgeschritten, so dass keine sich annähernden Standpunkte erreicht werden könnten. Beide Parteien würden auch weiterhin auf ihren Standpunkten beharren und ließen keine Bereitschaft zu Kompromissen erkennen.

Die politische und ideologische Basis beider Parteien sei zu verschieden, so dass sich die Kontakte mit der Zeit »festfahren« würden. Bei der Erkenntnis der »Unsinnigkeit« der Fortführung des Meinungsaustausches hinsichtlich der Erlangung gemeinsamer Standpunkte bestehe der einzige Vorteil für die SED darin, dass die DDR (bzw. SED) vor international interessiertem Gremium an Prestige gewinnen würde, zumal die Initiative der SED auch für diese Kreise offensichtlich sei.

Andere Diskussionsteilnehmer stellen die Frage, warum die SED-Führung unter den Bedingungen – ablehnende Haltung der SPD – den Meinungsaustausch fortsetzt. Der SED würden daraus eine Reihe Unbequemlichkeiten und Bemühungen erwachsen, ohne dass daraus ein Nutzen abzusehen sei.

Es ist einzuschätzen, dass ein großer Teil der skeptischen Argumente noch auf Unkenntnis und Unklarheit der Politik der SED und der zu behandelnden Grundfragen basiert. Objektivismus, Skeptizismus und Pessimismus werden dabei durch Unklarheit in folgenden Grundfragen begünstigt:

  • Probleme der Klassenkampfsituation in beiden deutschen Staaten;

  • Aggressivität des deutschen Imperialismus;

  • Völkerrechtliche Fragen der beiden deutschen Staaten und Fragen der Souveränität;

  • die gegenwärtige Rolle der SPD als »Arbeiterpartei« in Westdeutschland.

Neben diesen unklaren Meinungsäußerungen werden – wenn auch im Vergleich zu den zustimmenden Diskussionen in geringem Umfang – weitere pessimistische Argumente bekannt, die in ihrer Aussage teilweise auch einen feindlichen Charakter annehmen. Offensichtlich sind diese Äußerungen durch Kommentare der Zentren der politisch-ideologischen Diversion7 – vornehmlich der westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen – inspiriert.

Bei diesem Personenkreis findet auch die sogenannte Politik der kleinen Schritte der SPD und ihr »humanistisches Programm« eine gewisse Resonanz. Das spiegelt sich in folgenden Meinungen bzw. Forderungen wider:

  • Aufhebung der Beschränkungen im Reiseverkehr,

  • Milderung der gegenwärtigen Bedingungen an der Staatsgrenze Berlin und Aufhebung des »Schießbefehls«,8

  • Änderung der »starren Grundsatzpolitik« der SED,

  • Durchführung »freier Wahlen« – sowohl die Staatsform als auch das Parteiensystem betreffend –,

  • Befürwortung der ehemaligen deutschen Grenzen sowie

  • globale Unterstützung des Standpunktes der SPD.

Von diesen Argumenten steht die Forderung nach Aufhebung der Beschränkungen im Reiseverkehr vom Umfang und von der Beteiligung der Bevölkerungsgruppen her an der Spitze, wogegen eine Befürwortung der ehemaligen deutschen Grenzen in letzter Zeit in immer geringerem Maße – vorwiegend durch ehemalige Umsiedler9 oder durch als negativ bekannte Personen – erfolgt.

An diese Meinungsäußerungen schließen sich teilweise Spekulationen an, wonach »zumindest mit einer Mäßigung verschiedener Festlegungen der SED-Führung« gerechnet werde. Verstärkt hat sich dabei in letzter Zeit die Diskussion in den Grenzkreisen, es könnte eventuell mit erleichternden Bedingungen für die 500-m-Sperrzone gerechnet werden. In Berlin spekulieren Einwohner des Sperrgebietes mit der Aufhebung der Sperrmaßnahmen.10

Andere Argumente bewegen sich in der Richtung, die Initiative des Meinungsaustausches gehe von der SPD aus – wobei besonders die Person Brandts11 erwähnt wird –, und die weitere Entwicklung des Dialogs werde von Bonn aus bestimmt. Dabei müsse sich die SED, die im Wesentlichen vom Zustandekommen und den Auswirkungen des Briefwechsels überrascht gewesen sei, bestimmten Taktiken der SPD unterwerfen. Sie habe deshalb eine »Verzögerungstaktik« entwickelt und versuche durch ein »Verschleppungsmanöver«, Zeitgewinn zu erreichen. Damit solle erreicht werden, die Bevölkerung der DDR vor einer »weiteren Aufweichung« durch die »treffenden und die Menschen entsprechenden humanistischen Argumente der SPD« zu bewehren. Die SED sei gegenwärtig bemüht, durch sich anhäufende Erklärungen, Referate, Versammlungen und Aufrufe die Stimmung und Reaktion der Bevölkerung wieder »in den Griff« zu bekommen.

Dieser Taktik diene auch die gegenwärtig von der SED-Führung praktizierte Methode, eine Reihe von Offenen Briefen an Persönlichkeiten in Westdeutschland zu senden.12 Vereinzelt wurde die Frage gestellt, ob beabsichtigt sei, den Meinungsaustausch ebenfalls auf »staatlicher Ebene« zu führen, wobei Bezug auf das Schreiben des Genossen Stoph13 an Erhard14 genommen wird.15

In Verbindung mit Diskussionen über den Briefwechsel treten in letzter Zeit vereinzelt Diskussionen über mögliche »Spannungen im Politbüro der SED« und über »Nachfolge-Spekulationen« auf. Die »Spannungen« seien durch unterschiedliche Ansichten über die Entwicklung der Kontaktpolitik entstanden, wobei sich zwei verschiedene Gruppen gebildet hätten.

Hinsichtlich einer möglichen »Nachfolge« unter dem Gesichtspunkt, Genosse Ulbricht16 könne aufgrund seines hohen Alters seine Funktion nicht mehr lange ausüben, wird in Einzelfällen die Version entwickelt, es erfolge zunächst eine »Teilung der Ämter« bzw. eine »Dezentralisierung der Machtposition« »nach russischem Vorbild«. Als »Anwärter« für die neuen Funktionen werden besonders Genosse Stoph, Genosse Honecker,17 Genosse Verner18 und Genosse Ebert19 bekannt, wobei es sich aber ganz offensichtlich um die Kolportierung entsprechender gegnerischer Spekulationen handelt, die vereinzelt auch mit der Auffassung über einen möglichen »noch härteren Kurs« verbunden wird.

Von größerem Interesse als der Wortlaut der Offenen Briefe ist gegenwärtig die Vorbereitung der beiden Versammlungen in Karl-Marx-Stadt und Hannover.

Grundsätzlich besteht beim überwiegenden Teil der Diskussionsträger Zustimmung aus der Erwägung, SED und DDR könnten aus beiden Veranstaltungen keine »Nachteile« entstehen. Die SPD würde zwar mit den den DDR-Bürgern inzwischen geläufigen Thesen auftreten; es sei aber zu erwarten, dass die SED entsprechende »Gegenargumente« parat habe. Im Allgemeinen müsse bei der Zulassung der SPD-Redner in Karl-Marx-Stadt anerkannt werden, dass die SED ein derartiges Auftreten politisch verkraften könne.

Den größten Umfang hinsichtlich der beiden vorgesehenen Versammlungen nehmen Spekulationen ein, ob die Veranstaltungen überhaupt stattfinden, verschoben oder kurzfristig abgesetzt werden. Wiederholt wird dabei die Unannehmbarkeit der Bedingungen des sogenannten freien Geleits für die SED-Funktionäre betont. Demgegenüber werden überwiegend keine Hemmnisse gesehen, die Veranstaltung in Karl-Marx-Stadt durchzuführen.

Neben den überwiegend zustimmenden Äußerungen gibt es aber auch im größeren Umfang Meinungen, nach denen in Karl-Marx-Stadt und Hannover mit »Sensationen« gerechnet wird, die man auf keinen Fall »verpassen« dürfe. Wiederholt ist aus diesen Erwägungen heraus auch das starke Interesse an diesen Veranstaltungen einzuschätzen. Vereinzelt wird spekuliert, Vertreter der SED und SPD würden mit ihren Meinungen hart aufeinanderprallen und dann eine »interessante Diskussion liefern«. Andererseits wird erwogen, es könnte eventuell in Karl-Marx-Stadt spontan zu »Sympathiekundgebungen« für die SPD kommen. Dabei wird darauf verwiesen, dass es sich bei den SPD-Rednern um gute Rhetoriker handele, die publikumswirksame Argumente hätten und taktisch die Reaktion der Versammlungsteilnehmer schnell auszunutzen verstünden.

Es wird mit einer realen Berichterstattung durch Funk und Fernsehen gerechnet, wobei sich infolge der parallelen Berichterstattung durch die westdeutschen Publikationsorgane die DDR-Berichterstattung keine gezielten Kürzungen erlauben könne.

Nach vorliegenden Einschätzungen steigen gegenwärtig in allen Bezirken Meinungsäußerungen, unbedingt nach Karl-Marx-Stadt fahren zu wollen. (Vor allem Äußerungen von Jugendlichen, Studenten, Arbeitern und solchen Personen, die gleichzeitig ihre Sympathie zur SPD-Führung ausdrücken.)

Dabei treten auch Spekulationen über den Charakter der Veranstaltung in Karl-Marx-Stadt – Massenveranstaltung mit freiem Zutritt oder »geschlossene« Veranstaltung vor einem Kreis »ausgesuchter SED-Funktionäre« und »Pfui-Rufern« – mehr in den Vordergrund.

In Anlehnung an Verlautbarungen der Zentren der politisch-ideologischen Diversion wird in geringem Umfang eine für jeden Bürger mögliche Teilnahme gefordert.

Vereinzelt wird die Veröffentlichung des Anfahrtsweges der SPD-Delegation mit entsprechender Zeitangabe und die Verlautbarung des Protokolls verlangt. Damit entstehe für Nichtteilnehmer an der Versammlung die Möglichkeit der Begrüßung, der »Sympathiebekundung« bzw. des »Spalierbildens«.

Ebenfalls vereinzelt wird die Vermutung geäußert, in Karl-Marx-Stadt könnte es zu »Auflaufen« oder »Protestmärschen« kommen, da Bevölkerungsteile der DDR, die »mit der Politik der SED nicht einverstanden seien«, damit eventuell eine »Durchsetzung der von der SPD geforderten Erleichterungen« erreichen wollten.

Die Äußerungen zur geplanten Veranstaltung in Hannover sind überwiegend abwartend, wobei Meinungen vorherrschen, der bisher veröffentliche Termin könne als nichts Endgültiges betrachtet werden, und es sei fraglich, ob sich die Führung der SED überhaupt auf die von der SPD gestellten Bedingungen einlassen werde.

Neben der überwiegenden Ablehnung der Klauseln des »freien Geleits« wird dagegen von negativ eingestellten Bürgern die Ansicht verbreitet, die SED werde die Veranstaltung in Hannover nicht besuchen, da sie die »stärkeren Argumente« der SPD fürchte und »Angst« vor einer offenen Aussprache habe. Die SED könne es sich auch nicht leisten, eventuell von Extremisten in Hannover vor aller Öffentlichkeit »ausgepfiffen« zu werden. Die jetzigen Veröffentlichungen in den DDR-Publikationsorganen hinsichtlich vorgenommener Verhaftungen von DDR-Bürgern in Westdeutschland, zielten u. a. darauf ab, eine »Rückziehertaktik« einzuleiten.20

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    27. Juni 1966
    Einzelinformation Nr. 485/66 über die Einschleusung der Hetzschriften »Sozialdemokrat« 5/66 und 6/66 mittels Ballon in das Gebiet der DDR

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    20. Juni 1966
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