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Reaktionen auf den XXIII. Parteitag der KPdSU

18. April 1966
Einzelinformation Nr. 301/66 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum XXIII. Parteitag der KPdSU

Nach vorliegenden Meldungen haben die Diskussionen zum XXIII. Parteitag der KPdSU1 noch keine breite Basis erreicht.

Zurückzuführen ist der bisher noch geringe Umfang der Diskussionen darauf, dass mit gemeinsamen Aussprachen und Parteiversammlungen zu diesen Problemen erst begonnen wurde. Zum anderen wird häufig geäußert, die Veröffentlichungen wären zu umfangreich und das Studium dieses Materials zu zeitaufwendig.2

Mehrfach wird der Vorschlag unterbreitet, die Presseorgane sollten dazu übergehen, die Materialien in gekürzter Form zu veröffentlichen, aus denen das wichtigste hervorgehe. Dadurch würden die Materialien von einem größeren Kreis der Bevölkerung zur Kenntnis genommen. Für Interessenten würden angeblich die später in Broschüren erscheinenden Veröffentlichungen im vollen Wortlaut ausreichen.

In Einzelfällen wird erklärt, die DDR sei mit eigenen Problemen ausreichend beschäftigt, daher sei das Interesse an den in der Sowjetunion stehenden Problemen nur bedingt vorhanden.

In den bisher bekannten Diskussionen werden zum überwiegenden Teil die Erfolge der Sowjetunion auf ökonomischem, technischem und wissenschaftlichem Gebiet sowie die Bemühungen zur Erhaltung des Friedens hervorgehoben. Weiter wird argumentiert, der Parteitag dokumentiere erneut die Unerschütterlichkeit des sozialistischen Lagers. Dabei wird u. a. die politische und militärische Stärke der Sowjetunion gewürdigt. Die Ausführungen auf dem Parteitag hätten den Spekulationen der Imperialisten ein Ende gesetzt.

Anerkennend wird erwähnt, es sei deutlich geworden, dass die militärische Stärkung der Sowjetunion nicht für einen Angriff, sondern zur Gewährleistung der Sicherheit des Sowjetvolkes und der befreundeten Länder sowie für die Erhaltung des Friedens bestimmt sei. Es sei offensichtlich, dass der Einfluss des sozialistischen Lagers gewachsen sei. Die wirtschaftlichen Erfolge fänden trotz einiger nicht erreichter Planziele Anerkennung.

Der XXIII. Parteitag habe die Beschlüsse des XXI. und XXII. Parteitages3 noch einmal bestätigt; der Wille zur weiteren Entwicklung der Demokratie sei unter Beweis gestellt. Annahmen, wonach es zu einer Änderung der Außenpolitik der Sowjetunion durch in jüngster Vergangenheit erfolgte Umsetzungen der Funktionäre kommen könnte, hätten keine Bestätigung erhalten.

Häufig wird darauf verwiesen, neu sei an diesem Parteitag die große Sachlichkeit aller Darlegungen. Auch seien diesmal, im Gegensatz zu früheren Parteitagen, während denen lediglich die positiven Seiten der Entwicklung aufgezeigt worden wären, bestimmte Hemmnisse, Fehler und Schwächen zur Sprache gekommen. Diese Atmosphäre zeuge von Bemühungen um Sachlichkeit, Realität und der Ausschaltung jeglichen Subjektivismus und fände überwiegend Zustimmung.

Demgegenüber wird aber auch geäußert, der Parteitag habe an Interesse verloren, da vergebens auf »Sensationen« gewartet worden wäre. In der Vergangenheit habe ein Parteitag der KPdSU stets »Neuheiten« gebracht, wobei insbesondere an Veröffentlichungen über den Personenkult Stalins4 erinnert wird. Es würden jedoch auch Ausführungen über neue ideologische Probleme vermisst. In diesem Zusammenhang und in Anlehnung an westliche Verlautbarungen wird vereinzelt von einem »Parteitag der Langeweile« oder »Kongress der sanften Worte« gesprochen.

Verwunderung besteht darüber, dass zur Ablösung und zu den »Fehlern des Genossen Chruschtschow«5 auf dem Parteitag keine näheren Erläuterungen gegeben wurden, obwohl diese Vorkommnisse in die Zeit zwischen XXII. und XXIII. Parteitag einzugliedern seien. Nur aus bestimmten Äußerungen, bei denen der Name Chruschtschow jedoch nicht erwähnt worden wäre, sei der »ungünstige Einfluss« Chruschtschows ersichtlich gewesen. Offensichtlich sei jetzt eine »Revision« der Landwirtschaftspolitik und in der Orientierung auf die Schwerindustrie bzw. die chemische Industrie erfolgt.

Es sei auch zu erkennen, dass in bestimmten Fragen Probleme des in der DDR angewandten »Neuen Systems der Planung und Leitung«6 in der Sowjetunion übernommen würden. Allerdings wäre im Rechenschaftsbericht nicht ausdrücklich auf diesen Umstand hingewiesen, um – wie aus einigen Diskussionen hervorgeht – diese »Schwäche« vor der Weltöffentlichkeit, dass die Losung »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« demnach nicht mehr im vollen Umfang zuträfe.

In mehreren Diskussionen wird angeführt, die Ausführungen auf dem Parteitag seien so verstanden worden, dass von der »neuen Führung« eine Aufwertung der Rolle Stalins erfolge. Obwohl auch der Name Stalins nicht genannt sei, hätten doch bestimmte in die Ära Stalins fallende Errungenschaften eine Würdigung gefunden. Die Verurteilung Stalins sei nicht fortgesetzt worden. Einzelne Diskussionsträger gehen in ihren Behauptungen so weit, dass Stalin rehabilitiert werde.

Es sei zwar von der »jetzigen« Parteiführung »klug«, über Stalin und Chruschtschow zu schweigen, auf »lange Sicht« sei jedoch die Beibehaltung dieser Linie nicht möglich, da insbesondere auch die Intelligenz der Sowjetunion nach einer Klärung strebe.

Spekulationen gibt es in geringem Umfang hinsichtlich einer wirklich parteiverbundenen Politik des Genossen Breschnew,7 wobei Vermutungen, er könne eventuell den Personenkult fortsetzen, in den Vordergrund treten. In Anlehnung an Parolen westlicher Sender wird die These wieder hochgespielt, bei Genosse Breschnew handle es sich um einen »Stalinanhänger«. Die Umbenennung seiner Funktion in »Generalsekretär«8 wird zum Anlass genommen, Parallelen zur Funktion und »Machtkonzentration« Stalins zu ziehen.

Weiter wird in diesem Zusammenhang geäußert, nach der Ablösung Chruschtschows sei jetzt auf dem XXIII. Parteitag offensichtlich, dass die »Periode der Dezentralisierung« vorüber sei. Vielmehr würden alle Fäden der Planung und Leitung in den Händen des Genossen Breschnew und Kossygin9 zusammenfließen. Vereinzelt wird die Frage gestellt, ob diese Verfahrensweise den leninschen Normen entspreche.

Größeren Umfang nehmen Diskussionen über die Beteiligung der Abordnung der Kommunistischen Parteien aus anderen Ländern am XXIII. Parteitag ein, wobei erwähnt wurde, dass durch das Erscheinen fast aller Kommunistischen Parteien die Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers demonstriert würde. Ein großer Erfolg sei die Teilnahme von Abordnungen aus Nordvietnam und aus Kuba. Wenn der Vertreter der KP Vietnams während seiner Begrüßungsansprache erklärte, die Sowjetunion sei sein »zweites Vaterland«, so sei China mit der Behauptung, die Sowjetunion verrate Vietnam, der Verlierer. Damit könnten auch weitere Behauptungen und Verleumdungen Chinas, die Sowjetunion betreffend, in Zweifel gestellt werden.

Vielfach wird große Besorgnis über das Nichterscheinen einer Abordnung der Partei Chinas zum Ausdruck gebracht. Während im Zusammenhang mit der Ablehnung der KP Albaniens, am XXIII. Parteitag teilzunehmen, wiederholt geäußert wird, dass Albanien dem sozialistischen Lager nicht »gefährlich« werden könne, wird jedoch eine Ausweitung der Meinungsverschiedenheiten SU/China befürchtet.10

Die Ansichten der Führer Chinas seien unverständlich. Man habe, zumal Chruschtschow »geopfert« worden sei, an eine Lockerung der Spannung geglaubt, müsse jetzt aber das Gegenteil feststellen. In einigen Argumenten wird die Befürchtung, dass sich der Konflikt zu einer kriegerischen Auseinandersetzung ausweiten könnte, sichtbar. Angeblich läge eine kriegerische Auseinandersetzung SU/China näher als ein Krieg USA/SU.

Einen relativ breiten Umfang nehmen Diskussionen über die Aggression in Vietnam ein.11 Während zum überwiegenden Teil die Solidarität des XXIII. Parteitages mit den vietnamesischen Freiheitskämpfern gewürdigt wird, werden in einer Reihe von Diskussionen die von der KPdSU dazu festgelegten Maßnahmen nicht für ausreichend gehalten. So besteht Unverständnis darüber, dass sich die SU den Maßnahmen Chinas hinsichtlich der Sabotierung von Waffenlieferungen nach Nordvietnam »beuge«. Während vielfach die Schaffung eines »Blauen Verteidigungsgürtels«12 durch die SU von den Diskussionsträgern anerkannt und die militärische Stärke der SU hervorgehoben wird, werden aber auch gleichzeitig Fragen gestellt, inwieweit die SU nicht auch in der Lage sei, durch den Einsatz moderner U-Boote das kämpfende Nordvietnam zu unterstützen.

Von den gleichen Personenkreisen wird hervorgehoben, dass niemand einen Krieg wünsche, dass es doch aber in Anlehnung an die These des XX. Parteitages von der Vermeidbarkeit der Kriege möglich sein müsste, den Konflikt in Vietnam zu beenden.13

Es wird die Frage gestellt, inwieweit diese These auch nach dem XXIII. Parteitag noch Gültigkeit besitze.

In diesem Zusammenhang werden »Vergleiche« zur Politik Chruschtschows angestellt, und es wird behauptet, Chruschtschow hätte, ähnlich wie z. B. in Kuba,14 einen »Ausweg« aus dieser Situation auch ohne Krieg und Blutvergießen gefunden.

Vereinzelt wird Zweifel an der Bündnistreue der SU gegenüber den sozialistischen Staaten geäußert und die Frage gestellt, ob die »Hilfe« der Sowjetunion im Falle eines Konflikts in Deutschland genauso aussähe.

Unklarheit besteht zum Teil über die weitere »Deutschlandpolitik« der Sowjetunion. Während die Ausführungen des Genossen Breschnew zur Lage in Deutschland überwiegend Anerkennung finden, äußern sich andere Personen unzufrieden und verlangen »konkrete Festlegungen«. Es sei auch auf dem XXIII. Parteitag viel über Deutschland geredet worden, es sei aber keine Absicht erkennbar, etwas zu ändern. Über den Abschluss eines Friedensvertrages sei nicht mehr gesprochen worden.

Nach Meinung dieser Diskussionsträger wäre es auch notwendig gewesen, während des XXIII. Parteitages mehr über den Freundschaftsvertrag15 sowie über die Notwendigkeit einer engeren ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit der DDR auszuführen.

  1. Zum nächsten Dokument Schüsse auf Zivilistin durch sowjetische Armee in Neuruppin

    19. April 1966
    Einzelinformation Nr. 309/66 über ein besonderes Vorkommnis mit sowjetischen Armeeangehörigen am sowjetischen Objekt in Neuruppin, [Bezirk] Potsdam am 11.4.1966

  2. Zum vorherigen Dokument Kind stirbt an vergifteter Schokolade in Wallroda (1)

    17. April 1966
    Einzelinformation Nr. 300/66 über das Auffinden von vergifteten Schokoladenostereiern in Wallroda, [Kreis] Dresden[-Land] am 16.4.1966