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Schusswechsel während einer Flucht an der Berliner Mauer

4. September 1966
Einzelinformation Nr. 661/66 über einen schweren Grenzdurchbruch nach Westberlin mit Unterstützung durch Angehörige der Westberliner Polizei im Bereich Friedrich-Ludwig-Jahn Sportpark am 3.9.1966

Am 3.9.1966 gegen 22.10 Uhr durchbrach eine männliche Person unter dem Feuerschutz von Angehörigen der Westberliner Polizei die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin. Der Grenzverletzer hatte sich durch den Friedrich-Ludwig-Jahn Sportpark dem unmittelbaren Grenzgebiet genähert. Beim Überqueren des Hinterlandzaunes vom Stadion aus wurde er jedoch von dem im Sportplatz eingesetzten Postenpaar erkannt und zum Stehenbleiben aufgefordert. Der Grenzverletzer reagierte jedoch nicht auf die Forderungen der Posten, sondern überquerte im Laufschritt die ca. 120 m zwischen Hinterlandzaun und pioniertechnischen Anlagen, wobei er ein Signalgerät auslöste.

Durch die Auslösung des Signalgerätes wurden im Stadion weiter eine Kontroll- und eine Hundestreife und das Postenpaar in der Gleimstraße auf den Grenzverletzer aufmerksam. Alle Posten eröffneten daraufhin fast gleichzeitig gezieltes Feuer auf den Grenzverletzer, der sich zu diesem Zeitpunkt noch ca. 50 m von den pioniertechnischen Anlagen entfernt befand. Obwohl der Grenzverletzer offensichtlich verletzt wurde, gelang es ihm, die Grenzsicherungsanlagen zu überwinden und nach Westberlin zu entkommen. Insgesamt wurden 171 Schuss auf den Grenzverletzer abgegeben.

Unmittelbar nach der Feuereröffnung durch die eigenen Sicherungskräfte eröffneten im Abschnitt Wolliner Straße zwei Westberliner Polizisten das Feuer auf unseren Grenzposten an der Wolliner Straße, der an der Feuerführung gegen den Grenzprovokateur überhaupt nicht beteiligt war. Die Westpolizisten waren hinter Bäumen in der Bernauer – Wolliner Straße in Stellung gegangen und haben ca. sechs Schuss (vermutlich Pistole) auf den NVA-Postenturm in der Wolliner Straße abgegeben. Der Postenführer erwiderte daraufhin mit zwei Schuss aus seiner MPi das Feuer in Richtung des Mündungsfeuers der Westpolizisten, woraufhin diese ihre Stellung verließen und sich zurückzogen.

Ebenfalls unmittelbar nach der Feuerführung durch unsere Sicherungskräfte im Stadion eröffneten weiter die auf dem Westberliner Hochstand in der Kopenhagener Straße1 eingesetzten zwei Westberliner Polizisten gezieltes MPi-Feuer auf eine NVA-Kontrollstreife in der Kopenhagener Straße, die in das unmittelbare Grenzgebiet (Linie) wollte, um eventuell den Posten im Stadion Unterstützung zu geben. An der Feuerführung gegen den Grenzprovokateur war diese Kontrollstreife ebenfalls nicht beteiligt.

Durch die Feuerführung der Westberliner Polizisten wurde der Gefreite [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Fernbreitenbach, [Kreis] Eisenach, [Straße, Nr.], NVA seit 4.5.1965, Streifenposten, durch einen Streifschuss am Hals – in unmittelbarer Nähe des Kehlkopfes – verletzt. (Gefreiter [Name 1] wurde sofort in das VP-Krankenhaus eingeliefert, Lebensgefahr besteht nicht. Wegen einer erlittenen Schockwirkung muss er jedoch weiter im Krankenhaus verbleiben.) Dem Postenführer Unteroffizier [Name 2, Vorname] wurde vermutlich durch einen Querschläger die Kleidung zerrissen. Insgesamt wurden von den Westpolizisten ca. 40 Schuss auf diese Kontrollstreife abgegeben. Unmittelbar nach dem Eintreffen von Reservekräften der NVA verließen die Westpolizisten ihren Hochstand, von dem aus sie das Feuer geführt hatten.

Nach weiteren Feststellungen wurde auch von dem den Provokationsort gegenüberliegenden Westberliner Gebiet (Güterbahnhof der Nordbahn) aus auf unsere Posten im Bereich des Friedrich-Ludwig-Jahn Sportparks geschossen, wobei es jedoch zu keinen Verletzungen kam. Die Anzahl der von Westberliner Gebiet aus abgegebenen Schüsse und die genauen Standorte der Westberliner Polizisten konnten nicht festgestellt werden. (Maßnahmen zur Sicherung von Einschüssen auf unserem Gebiet werden eingeleitet.)

Diese Grenzprovokation steht offensichtlich im Zusammenhang mit folgenden Vorgängen:

Am 3.9.1966 gegen 21.50 Uhr wurden die Grenzposten, die an der U-Bahnstation »Walter-Ulbricht-Stadion«2 ihren Dienst versehen, von einer männlichen Person im Alter von ca. 25 Jahren mit den Worten: »Ich werde verfolgt« angerufen. Dabei steckte diese Person zwei Zettel durch das Gitter des U-Bahneinganges und entfernte sich sofort wieder, ohne dass eine Personenfeststellung möglich war.

Bei einem Schriftstück handelt es sich um einen »Dienstauftrag NVA Nr. E 162405«, ausgefüllt vom 33. Grenzregiment mit Datum vom 3.9.1966, gültig ab 3.9.1966 bis auf weiteres.

Dieser »Dienstauftrag« war auf den Namen »Winkler, Hans-Martin,3 Oberstleutnant, Dienstausweis Nr. II 55946« ausgeschrieben und enthielt folgenden maschinenschriftlichen Text als Auftrag: »Überwachung und Sicherung des U-Bahngeländes im Grenzpostenbereich ›Walter-Ulbricht-Stadion‹ zur Verhinderung eines schweren politischen Grenzdurchbruchs, i.V. Kress,4 Hauptmann.« (Nach den bisherigen Überprüfungen entspricht der Dienstauftrag den bei der NVA verwendeten Formblättern. Es handelt sich dabei um einen älteren Dienstauftrag, dessen ursprünglicher Text durch Radieren entfernt bzw. verändert wurde. Der Text ist einwandfrei als Fälschung zu erkennen. Zu erwähnen ist hierbei, dass der Name des Unterschriftsleistenden – Kress, Hauptmann – mit dem Namen des stellvertretenden Kommandeurs des 33. Grenzregiments identisch ist. Vom MfS wurden entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um die Herkunft und die mögliche Verbringung des Dienstauftrages an den Provokateur aufzuklären.)

Der zweite formlose Zettel enthält folgenden maschinenschriftlichen Text:

»Stadtkommandant von Berlin | O.U. 2.9.66, Generalmajor Poppe5 | Streng geheim!

Ich befehle Ihnen persönlich, sofort den Anweisungen des jungen Offiziers der Staatssicherheit in ihrem Postenbereich unverzüglich Folge zu leisten. In dieser Sache von höchster staatspolitischer Bedeutung erwarte ich von Ihnen entschlossenes und mutiges Verhalten. Sie haben jede erdenkliche Unterstützung und Sicherheit zu gewährleisten. Bei Zuwiderhandlungen haben sie sich für die entstandenen Folgen persönlich zu verantworten.

Gezeichnet Poppe | Generalmajor H. Poppe«

Diese Zettel wurden nach bisherigen Feststellungen von dem Grenzprovokateur selbst am U-Bahnhof abgelegt, offensichtlich, um die Grenzposten irrezuführen und um eine Ablenkung der Kräfte der NVA von dem eigentlichen Durchbruchsort zu erreichen. Wie weitere Überprüfungen ergaben, handelt es sich bei dem Grenzprovokateur mit hoher Sicherheit um den [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1938 in Luckenwalde, wohnhaft Berlin-Lichtenberg, [Straße, Nr.], Student, Pädagogische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin.

(Von dpa werden inzwischen zu dem Grenzprovokateur folgende Personalien veröffentlicht: 28 Jahre, Student, wohnhaft in Lichtenberg.)6

[Name 3] stand im dringenden Verdacht, von der Grenzschleusung einer befreundeten weiblichen Person Kenntnis zu haben. Zum Zwecke der näheren Aufklärung wurde er am 3.9.1966 gegen 20.00 Uhr von einem Mitarbeiter des MfS in seiner Wohnung aufgesucht, nachdem bereits vorher schon Kontakt zu ihm aufgenommen worden war. Auf Befragen erklärte er, von einer Republikflucht dieser Person nichts zu wissen. Zum Abschluss dieses Gespräches nutzte er ein momentanes Abwenden des Mitarbeiters dazu aus, diesen mit einem offensichtlich zu diesem Zweck bereitgehaltenen Schlagstock niederzuschlagen.

Anschließend ergriff er sofort die Flucht aus der Wohnung. Obwohl dem Mitarbeiter auf dessen Rufe sofort Hausbewohner zu Hilfe kamen, konnte [Name 3] auch durch diese nicht mehr gestellt werden.

Vermutlich verfolgte [Name 3] mit dem Niederschlagen des Mitarbeiters das Ziel, sich in den Besitz der Ausweispapiere zu setzen, was jedoch nicht gelang. Diese Annahme wurde auch durch die sichergestellten Zettel, die der Grenzprovokateur am U-Bahnhof »Walter-Ulbricht-Stadion« hinterlegte, erhärtet. Obwohl sofort nach diesem Vorkommnis Fahndungsmaßnahmen eingeleitet wurden, konnte [Name 3] infolge der kurzen Zeitspanne bis zu dem Grenzdurchbruch nicht mehr ergriffen werden. (Der von [Name 3] niedergeschlagene Mitarbeiter des MfS musste sich sofort zur ärztlichen Behandlung in das VP-Krankenhaus begeben.)

Vom MfS wurden alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet, um die näheren Umstände und Zusammenhänge, insbesondere die Organisierung der Grenzprovokation und die Unterstützung durch die Westberliner Polizei betreffend, aufzuklären.

  1. Zum nächsten Dokument Negative Stimmung in Wirtschaftsbereichen des Bezirks Dresden

    5. September 1966
    Einzelinformation Nr. 662/66 über einige Probleme der Lage im Bezirk Dresden

  2. Zum vorherigen Dokument Mediziner äußert sich negativ auf Fachkongress in Moskau

    3. September 1966
    Einzelinformation Nr. 650/66 über das Verhalten des Leiters des Instituts für experimentelle Epidemiologie und Lysotypie, Wernigerode, Dr. med. habil. Helmut Rische anlässlich des IX. Internationalen Kongresses für Mikrobiologie in Moskau