Situation im Jugendwerkhof »Makarenko«, Außenstelle Olgashof
26. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 808/66 über einige Hinweise zur Lage im Jugendwerkhof »Makarenko« in Reinstorf – Außenstelle Olgashof – Kreis Wismar
Im Zusammenhang mit den Untersuchungen gegen zwei jugendliche Brandstifter, die in der Außenstelle Olgashof des Jugendwerkhofes »Makarenko« Reinstorf untergebracht sind, wurden dem MfS eine Reihe Hinweise zur Lage in diesem Jugendwerkhof1 bekannt, die wir Ihnen zur Kenntnisnahme und als eventuellen Anlass von Untersuchungen und Maßnahmen Ihrerseits mitteilen.
Der Zögling [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1950, setzte am 22.8.1966 eine Scheune der LPG Typ III2 Dorf Mecklenburg in Brand und rief damit einen Schaden von 60 000 MDN hervor.
[Name 1] war im April 1966 auf Beschluss des Jugendhilfeausschusses Aschersleben wegen Arbeitsbummelei in den Jugendwerkhof eingewiesen worden. Die Brandstiftung führte er durch, weil er sich im Zusammenhang mit der im Werkhof vorgenommenen Wettbewerbsauswertung benachteiligt fühlte und sich deshalb am Erzieher [Name 2] »rächen« wollte.
Zunächst versuchte er mit einem glimmenden Zigarettenrest die Scheune in Brand zu setzen. Als dies nicht zur Brandauslösung führte, zündete er an zwei Stellen das in der Scheune befindliche Stroh mit Streichhölzern an.
Der Zögling [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1960,3 setzte am 28.9.1966 den Offenstall der LPG Typ III Dorf Mecklenburg in Brand, wodurch ein Schaden von 100 000 MDN entstand. [Name 3] hatte bereits im September 1964 eine Feldscheune in Liebertwolkwitz bei Leipzig in Brand gesetzt und wurde daraufhin in den Jugendwerkhof eingewiesen.
Der Täter ist das dritte Kind eines Landarbeiters. Seine Mutter verstarb 1953. Sein Vater wurde im gleichen Jahr wegen Unzucht4 mit Kindern zu 6 ½ Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihm wurde das Sorgerecht für die Kinder entzogen. [Name 3] wuchs bei Pflegeeltern auf. Es gab mit ihm größere Erziehungsschwierigkeiten. Da er mehrfach seine Pflegeeltern verließ, wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht. Das Ziel der 8. Klasse erreichte er in der Schule nicht. Er wurde aus der 7. Klasse entlassen.
Als Motiv seiner Tat gibt [Name 3] Verärgerung über die Verhältnisse im Jugendwerkhof an. Er sei im Zusammenhang mit verschiedenen Vorkommnissen oftmals unberechtigt beschuldigt worden. Durch den Brand wollte er eine Inhaftierung erreichen, um nicht länger im Jugendwerkhof verbleiben zu müssen.
Zur Lage im Jugendwerkhof Reinstorf insbesondere in der Außenstelle Olgashof selbst wurden im Verlauf der Untersuchungen folgende Feststellungen getroffen:
Die Einweisung der Zöglinge in den Jugendwerkhof Reinstorf erfolgt durch den zentralen Jugendwerkhof »Ernst Schneller« in Eilenburg und wird durch die Zentralstelle beim Ministerium für Volksbildung bestätigt. Die gesetzlichen Bestimmungen sehen vor, dass die Jugendlichen, die in einen Jugendwerkhof eingewiesen werden, zuerst im zentralen Jugendwerkhof Eilenburg einen etwa vier- bis sechswöchigen Test durchlaufen müssen. Danach wird festgelegt, in welchen Jugendwerkhof die Einweisung erfolgen kann. Da der zentrale Jugendwerkhof Eilenburg zurzeit überfüllt ist, werden die Einweisungen vielfach entgegen den gesetzlichen Bestimmungen direkt in die Jugendwerkhöfe vorgenommen. Als Grundlage für die Einweisungen sind dann nur die schriftlichen Unterlagen vorhanden. Es kann dadurch zu Fehlentscheidungen kommen, indem Jugendliche, die schwere Straftaten begangen haben, in Werkhöfe des Typ I5 eingewiesen werden, wo ihre Umerziehung nicht gewährleistet ist.
Der Jugendwerkhof Reinstorf mit der Außenstelle Olgashof gehört zum Typ I. Es sind hier Jugendliche untergebracht, die allein schon aufgrund der Schwere ihrer Straftaten in Jugendwerkhöfe des Typ II oder III hätten eingewiesen werden müssen. Im Jugendwerkhof Reinstorf befinden sich zurzeit 52 Zöglinge. Nach den von ihnen begangenen Straftaten gliedern sie sich wie folgt aus:
Sittlichkeitsdelikte | 3 Jugendliche |
|---|---|
Diebstahl | 14 Jugendliche |
Erziehungsschwierigkeiten | 11 Jugendliche |
Schul- und Arbeitsbummelei | 12 Jugendliche |
Einbruchdiebstahl | 4 Jugendliche |
Betrugshandlungen | 1 Jugendlicher |
unbefugtes Benutzen von Kfz | 2 Jugendliche |
versuchte Grenzdurchbrüche | 4 Jugendliche |
Sachbeschädigung | 1 Jugendlicher |
In der Außenstelle Olgashof befinden sich einschließlich des [Name 1] und [Name 3] weitere 25 Zöglinge, die sich nach den von ihnen begangenen Straftaten wie folgt aufgliedern:
Diebstahl | 12 Jugendliche |
|---|---|
versuchte schwere Brandstiftung | 3 Jugendliche |
Sittlichkeitsdelikte | 3 Jugendliche |
Arbeitsbummelei | 5 Jugendliche |
Erziehungsschwierigkeiten | 2 Jugendliche |
Eine große Anzahl von Zöglingen ist bereits mehrfach vorbestraft. Für alle in der Außenstelle Olgashof untergebrachten Zöglinge ist trotz unterschiedlicher Schwere der von ihnen begangenen Straftaten eine einheitliche Aufenthaltsdauer von neun Monaten festgelegt, was gleichzeitig die Höchstgrenze für Jugendwerkhöfe des Typ I ist.
Der Direktor des Jugendwerkhofes Reinstorf Müller6 ist der Auffassung, dass beim größten Teil der Zöglinge ein längerer Aufenthalt zur Umerziehung notwendig wäre.
Der wegen Brandstiftung vorbestrafte Zögling [Name 1] hatte bereits mehrere Diebstähle und Brandstiftungen begangen und sich unerlaubt vom Jugendwerkhof entfernt.
Der Zögling [Name 4] wurde aufgrund eines Antrages des Spezialkinderheimes Krassow nach Olgashof eingewiesen. Nach Einschätzung seiner Erzieher hätte er jedoch unbedingt in einen Jugendwerkhof Typ II kommen müssen.
Der Jugendliche [Name 5] wurde vor einiger Zeit aus Olgashof aufgrund energischer Proteste des Direktors in den Jugendwerkhof Typ III in Torgau verlegt.
An diesen Beispielen ist zu erkennen, dass bei der Einweisung der Zöglinge offensichtlich nicht genügend ihre Straftaten und ihr bisheriges Verhalten beachtet werden.
Bei der Auswahl der Zöglinge für die Außenstelle Olgashof wird, wie vorliegende Beispiele zeigen, ebenfalls nicht die nötige Sorgfalt an den Tag gelegt. Die Jugendlichen werden teilweise zur Außenstelle verlegt, wenn das Stammlager in Reinstorf voll besetzt ist und wenn in Olgashof genügend Erzieher vorhanden sind. Durch oberflächliche Auswahl kam es z. B, in Olgashof zu einer Konzentration von Jugendlichen, die bereits wegen Brandstiftung angefallen waren.
Die Situation in der Außenstelle Olgashof wird ferner durch folgende Erscheinungen charakterisiert:
Die pädagogischen und menschlichen Qualitäten der Erzieher reichen offensichtlich zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben nicht aus. Der Leiter der Außenstelle Olgashof Hanke,7 der seit mehreren Jahren diese Funktion ausübt, wird als jähzornig und unbeherrscht eingeschätzt. Er verstände es nicht, die Jugendlichen richtig anzufassen und versuche nur zu erreichen, dass die Zöglinge ihm widerspruchslos gehorchen. Er dulde keinerlei Diskussion und lasse andere Meinungen von Jugendlichen und Erwachsenen nicht gelten. Im Auftreten gegenüber anderen Erziehern zeige er ähnliche Tendenzen, was mit ein Grund dafür sei, dass kein Erzieher aus dem Hauptheim in Reinstorf in Olgashof arbeiten möchte. So sind in Olgashof zwei der sechs notwendigen Planstellen nicht besetzt.
Im Stammheim Reinstorf dagegen sind die Planstellen mit einem Erzieher überbesetzt. Es besteht jedoch eine allgemeine Abneigung gegen den Dienst in der Außenstelle Olgashof.
Hanke sei außerdem bestrebt, sich durch Ausnutzung seiner Funktion persönliche Vorteile zu verschaffen.
Der Erzieher [Name 6] hat keine staatliche Abschlussprüfung abgelegt. Es wird eingeschätzt, dass er versuche, die Jugendlichen mit veralteten Methoden zu erziehen. Insbesondere auf theoretischem Gebiet habe er größere Schwierigkeiten. Um seine Schwächen zu verdecken, trete er gegenüber den Jugendlichen sehr hart auf. Ihm fehle jegliches Feingefühl, um sich den Jugendlichen anzupassen. In der faschistischen Wehrmacht war er Hauptfeldwebel. Er führt mit den Jugendlichen die vormilitärische Ausbildung durch, während er gern von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Aufgrund seiner veralteten und harten Erziehungsmethoden sowie seiner Berichte von der faschistischen Wehrmacht wird er von den Jugendlichen als »Spieß« bezeichnet.
Der Erzieher [Name 7] ist erst vor kurzer Zeit von einem Spezialkinderheim für schwererziehbare Kinder nach Olgashof gekommen, weil er dort seinen Aufgaben nicht gewachsen war.
Bei geringen Vergehen werden vielfach Bestrafungen ausgesprochen, während andererseits grobe Nachlässigkeiten übersehen werden.
Während der Ostseewoche 1966 wurde mit den Zöglingen der Außenstelle Olgashof eine Besichtigung der Ostseemesse in Rostock durchgeführt.8 Durch die Erzieher wurde es zugelassen, dass der Jugendliche [Name 8] sich dabei sehr stark betrank. Er griff dann im betrunkenen Zustand einen Pförtner an.
Offensichtlich mit zur Verdeckung ihrer Mängel wurden von den Erziehern im Umgang mit den Jugendlichen ein militärischer Ton eingeführt. Es wird häufig kommandiert und befohlen, ohne den Zöglingen wenigstens in gewissem Maße die Notwendigkeit verständlich zu machen oder ihre Meinung in bestimmten Fragen zu hören. Diese Atmosphäre hat dazu geführt, dass die Zöglinge sich nicht wohlfühlen und die Erziehungsarbeit durch das schlechte Vertrauensverhältnis zwischen Erziehern und Zöglingen erschwert wird.
Unter den Zöglingen in Olgashof besteht außerdem Unzufriedenheit, weil sie ungünstigere Arbeits- und Ausgangszeiten als im Stammheim Reinstorf haben. Die Zöglinge in Olgashof müssen z. B. täglich eine Stunde länger arbeiten. Sie haben nur Sonntagnachmittag Ausgang, während die Jugendlichen in Reinstorf Sonnabend- und Sonntagnachmittag Ausgang erhalten.
Da sich die Außenstelle Olgashof in einem ehemaligen Bauernhof befindet und die Anordnung der Räume ungünstig ist, wird die Kontrolle der Zöglinge erschwert. Die Jugendlichen können das Gebäude durch die Eingänge unkontrolliert verlassen und betreten.
Der Direktor des Jugendwerkhofes Reinstorf Müller kümmert sich nur wenig um die Außenstelle Olgashof. Während des Brandes in der Nacht vom 22. zum 23.8.1966 erschien er in der Außenstelle, wo er sich u. a. mit dem stellvertretenden Außenstellenleiter Teßmann9 unterhielt. Nach einiger Zeit verabschiedete er sich mit der Bemerkung: »Ich fahre nach Hause. Uns ist ja nichts verbrannt.«
Auch bei ihm gibt es Hinweise, dass er Zöglinge zur Erledigung privater Arbeiten einsetzt. Er lässt sich z. B. von ihnen ein Wochenendhaus bauen.
Der Rat des Bezirkes Rostock, Abteilung Volksbildung, als vorgesetzte Dienststelle des Jugendwerkhofes, nimmt nur wenig Einfluss auf die Lage in den Heimen. Der hierfür verantwortliche Mitarbeiter Polzin10 war noch nicht in Reinstorf.