Tagung der Evangelischen Akademie zum Thema Polen
5. Mai 1966
Einzelinformation Nr. 351/66 über die Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg zum Thema »1 000 Jahre Polen – Nachbar in der Geschichte«
Die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg tagte in der Zeit vom 25. bis 27.3.1966 im Stephanus-Stift Berlin-Weißensee1 zum Thema »1 000 Jahre Polen – Nachbar in der Geschichte«.
Die Tagesordnung dieser Veranstaltung sah folgende Referate vor:
- 1.
»Polnische Geschichte im Spiegel der Nationalliteratur«
Referent: Bereska,2 Übersetzer im Aufbau-Verlag/Berlin - 2.
»Kirche in Polen«
Referent: Janusz Makowski,3 Warschau; Mitglied des katholischen Intelligenzklubs4 - 3.
»Vom Königreich zur Volksrepublik – Fortschritt und Tradition in tausendjähriger Geschichte«
Referent: Prof. Dr. Stanisław Stomma,5 Warschau - 4.
»Nachbarschaft heute«
Referent: Mazowiecki,6 Warschau; Mitglied des katholischen Intelligenzklubs - 5.
»Konzeption für Koexistenz – Polens Beitrag zum Frieden«
Referent: Dr. Hagmajer,7 Warschau; Abgeordneter und Vizepräsident der Gruppe Pax8
An der Tagung nahmen ca. 70 Personen, davon 50 % Frauen, teil.
Die Tagung nahm folgenden Verlauf:
1. Referat »Polnische Geschichte im Spiegel der Nationalliteratur«
Der Referent Bereska hob in seinen Ausführungen hervor, es habe schon immer ein »wechselseitiges Interesse« für das Schicksal Polens und Deutschlands und der Schriftsteller Polens und Deutschlands bestanden. Es sei zu begrüßen, dass der östliche Teil Deutschlands seit 1945 für die polnische Literatur sehr aufgeschlossen wäre. Die DDR sei nach der Sowjetunion das Land, das die meisten polnischen Übersetzungen herausgebracht habe. Trotzdem sei die polnische Literatur nicht so verbreitet wie die anderer Länder. Eventuell sei dies darauf zurückzuführen, dass sich die polnische Literatur im Wesentlichen mit erschütternden Berichten über den Zweiten Weltkrieg und mit vielen historischen Themen beschäftige.
In der Diskussion zu diesem Referat wurde erörtert, welche »Linien« in der Literatur gegenwärtig vorherrschten. Die Diskussionsteilnehmer einigten sich dahingehend, es seien vor allem historische Romane und Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit, aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es seien vor allem katholische Schriftsteller, die sich mit diesem Stoff beschäftigten, wobei die Auflagen ihrer Romane bereits die Millionen-Grenze überschritten hätten.
Der Referent Bereska empfahl zum Abschluss der Diskussion, Interessenten sollten sich durch Verwandte oder Bekannte die im westdeutschen Hansa-Verlag erschienene »moderne polnische Lyrik«9 schicken lassen.
2. Referat »Kirche in Polen«
Der Referent Makowski erläuterte in seinem Referat die kirchliche Tätigkeit in Polen und erklärte hierbei, dass sich die männlichen und weiblichen Orden der katholischen Kirche gegenüber dem Vorkriegsstand vergrößert hätten. Ein wichtiges Problem sei die Frage des Religionsunterrichtes, der nur bis 1960 in den Schulen durchgeführt worden sei. Seit 1961 werde er außerhalb der Schule durchgeführt. Die katholische Öffentlichkeit trete aber auch nicht mehr für die Durchführung dieses Unterrichts in den Schulen ein. Die Struktur der katholischen Kirche in Polen sei im Grund seit dem Mittelalter die gleiche geblieben. Das liege daran, dass der Vatikan die jetzigen Grenzen bei der Aufteilung der Diözesen nicht berücksichtige. Es gebe auch gewisse »Schwierigkeiten« zwischen Kirche und Staat. Nach der Meinung des Referenten sei die Zusammenarbeit zwischen Marxisten und Christen in vielen Ländern zu einem »entscheidenden Problem« geworden. Im Allgemeinen würden die Christen im Marxisten in erster Linie den Vertreter des Atheismus sehen. Die Marxisten wiederum würden der Kirche nachsagen, sie lege durch ihre enge Bindung an die kapitalistische Gesellschaft Hindernisse für eine Veränderung in der Gesellschaft in den Weg. Seit der Ernennung Papst Johannes XXIII.10 sei klar geworden, dass die Kirche nicht Urteile fällen könne und Probleme durch eine einseitige Bindung an eine Gesellschaftsstruktur nicht zu lösen seien. Eine Frage, die noch der Lösung harre, sei die religiöse Erziehung. Dieses Problem habe auch das polnische Parlament am 2. März 1966 beschäftigt. Dort sei zugegeben worden, dass in der Wirtschaft des sozialistischen Systems eine Mitarbeit der Kirche möglich sei. Nach der Meinung des Referenten dürfe die Schule aber nicht den religiösen Anschauungen des einzelnen entgegentreten, weil katholische Bürger wie alle anderen Bürger am Aufbau des Staates teilhätten. Es sei unzulässig, ständig »Brüche in der ideellen Bindung« der jungen Menschen zu riskieren.
In der Diskussion wurde gefragt, welche Gespräche in der VR Polen zwischen Marxisten und Christen stattfänden. Der polnische Referent antwortete, die Gespräche seien seit 1956 sehr stark, und die Einladungen würden wechselseitig von Marxisten und Katholiken erfolgen. Eine »Feindschaft« zwischen katholischen und evangelischen Bürgern gebe es nicht. Auf die Frage nach der »christlichen Kindererziehung« antwortete der polnische Vertreter, darüber fänden keine Gespräche auf höchster Ebene statt, sondern die Auseinandersetzungen würden publizistisch geführt. Ein »Problem der Jugendweihe«11 gebe es in Polen nicht.
Pfarrer Vibrans,12 Kirchenprovinz Sachsen, erklärte in der Diskussion: Seiner Meinung nach habe der »Dialog« in Deutschland eine rückläufige Tendenz; er habe im KZ und im Nationalkomitee »Freies Deutschland«13 stattgefunden. Was bei »uns« daraus geworden sei, könnten wir nicht mehr als »Ja« zur pluralistischen Gesellschaft ansehen. Bei »uns« gebe es nur »einseitige Gespräche«, das hieße »sagt ›Ja‹ zu unserem Weg und sprecht nicht von anderen Möglichkeiten«.
3. Referat »Vom Königreich zur Volksrepublik – Fortschritt und Tradition in tausendjähriger Geschichte«
Professor Dr. Stomma erklärte in seinem Referat, das Ziel der menschlichen Entwicklung müsse immer die »Persönlichkeit« sein. Er wies besonders auf drei Erscheinungen der polnischen Vergangenheit hin, in denen die fortschrittliche Bedeutung zum Ausdruck gekommen sei:
a) die Entwicklung der polnischen politischen Demokratie,
b) die religiöse Toleranz,
c) die Freiheitskämpfe des 19. Jahrhunderts.
Zu a)
Es sei interessant, wie sich die demokratischen Ergebnisse immer durchsetzen, im Endergebnis aber leider nicht befriedigend waren. Im 17. Jahrhundert habe ein »Entartung« der demokratischen Tradition begonnen, und diese Entwicklung führte zum »Zusammenbruch«. Polen habe sich bereits »Republik« […]14
4. Referat »Nachbarschaft heute«
Der Referent erklärte, die tragfähige Grundlage für ein gutes deutsch-polnisches Verhältnis sei die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.15 Unter den Teilnehmern dieser Tagung befänden sich auch einige Personen, die aus den Gebieten stammten, die heute polnisch sind.16 Die Polen respektierten die Gefühle dieser Menschen und verstünden das Leid durchaus. Es sei aber überflüssig zu betonen, dass dies eine Folge des Krieges sei, den nicht Polen, sondern Deutschland angefangen habe. Heute würden in diesen Gebieten acht Millionen Polen leben. Nicht ohne Stolz werde gesagt, dass dort eine Gesellschaft neu gewachsen ist. Diese Tatsache sei nicht mehr zu verändern. Die Polen würden auch den Standpunkt der Regierung der DDR kennen. Es wäre wünschenswert, wenn ihn alle Deutschen in Ost und West vertreten würden. Was die VR Polen jedoch aus Westdeutschland zu dieser Frage zu hören bekomme, sei alles andere als erfreulich.17
Nach 1945 hätten die Polen geglaubt, dass an eine Wiedergeburt des deutschen Militarismus nicht zu denken sei. Wenn sich heute die Franzosen, Briten, Russen und andere Völker dafür einsetzen, dass Westdeutschland keine Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhalte, so hätten sie ihre guten Gründe.18 Solch ein Zündstoff in Europa könne nicht geduldet werden. Die polnischen Christen könnten zu verschiedenen Sachen in der DDR verschiedener Meinung sein, aber kein Pole werde den Standpunkt der DDR zur Grenze übersehen.
Der Referent stellte die rhetorische Frage, was man in Polen für ein gutes Verhältnis zu den Deutschen tun könne. Es gebe in Polen »nationalistische« Bestrebungen gegenüber den Deutschen. Wenn die Polen einen Schritt tun würden, müsse immer zuerst einer von deutscher Seite erfolgt sein. Das geschichtliche Erbe sehe nun einmal so aus.
In der Diskussion zu diesem Thema wurde auf die Denkschrift der EKD zur Oder-Neiße-Grenze eingegangen.19 Eine Teilnehmerin erklärte, diese Denkschrift sei doch auch ein Schritt zur Verständigung.20 Darauf wurde eingewendet, es sei zu berücksichtigen, dass diese Denkschrift aus Westdeutschland komme und nicht »weit genug« gehe. Von einem polnischen Teilnehmer wurde erklärt, diese Denkschrift sei in Polen gut aufgenommen worden, man sei aber nicht mit allen Argumenten einverstanden. Der anwesende Redakteur der »Neuen Zeit« Klages21 äußerte dazu, die Denkschrift spreche »unfreundlich« von der DDR und die Existenz der DDR bleibe darin unerwähnt. Es sei bedauerlich, dass diese Anregungen der Denkschrift wieder zu einem Zeitpunkt zurückgenommen worden seien, als bei Prof. Goldschmidt22 in Westberlin ein Brand gelegt wurde. Auf der vor kurzem in Westberlin zu Ende gegangenen Synodaltagung sei man in der Behandlung dieser Vorkommnisse auch einen Schritt zurückgegangen.23 Ein Tagungsteilnehmer fügte hinzu, man müsse davon ausgehen, dass Deutschland seit 20 Jahren geteilt sei. In der DDR sei nach seiner Meinung die Einstellung Polen gegenüber positiv. Er habe aber den Eindruck, dass der polnische Mensch unter dem Begriff »Deutschland« Westdeutschland verstehe. Auch der Brief der polnischen Bischöfe spreche nur Westdeutschland an.24 Die Leiterin der Akademie erwiderte darauf, vielleicht seien die Menschen in der DDR zum Teil noch reaktionärer als in Westdeutschland, weil sie keine Landsmannschaften hätten, in denen sie sich abreagieren könnten. Der polnische Vertreter wandte ein, es sei nicht richtig, nur Westdeutschland für »Deutschland« zu halten. Wenn so viel von Westdeutschland gesprochen werde, dann läge es daran, dass dieser Staat die Ursache der Beunruhigung für die VR Polen sei. Ein westdeutscher Teilnehmer forderte, man solle alle Westdeutschen nach Polen reisen lassen. Aber nur einmal im Jahr fahre von Dortmund ein Sonderzug nach Polen. Dass nicht mehr Züge fahren würden, läge nicht an der westdeutschen Seite.
5. Referat »Konzeption für Koexistenz – Polens Beitrag zum Frieden«
Das Referat Dr. Hagmajers wurde durch den Chefredakteur Jankowski25 verlesen, da Hagmajer nicht Deutsch spricht. Es handelt sich dabei um einen progressiven Vortrag über Sinn und Zweck der friedlichen Koexistenz, über den Wettbewerb und die Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher Systeme.
Im Referat wurden die Bonner Hallstein-Doktrin26 und der Bonner Revanchismus aufs Schärfste verurteilt. Weiter wurde bemerkt, dass der in der ganzen Welt diskutierte Bischofsbriefwechsel den westdeutschen Kreisen leider aufgrund unglücklicher Formulierungen »Nahrung« gegeben habe. Obwohl die polnischen Bischöfe ihren Standpunkt zur Oder-Neiße-Grenze niemals geändert hätten, glaubte man offensichtlich, ein Teil der polnischen Öffentlichkeit sei bereit, über Grenzfragen zu diskutieren.27 Weder die inneren Verhältnisse Polens noch seine Grenzen könnten jedoch jemals Gegenstand solcher Diskussionen sein.
In der Diskussion zu diesem Thema trat Pfarrer Vibrans wiederum negativ auf. Er leugnete die Verantwortung der Deutschen über die Wiedervereinigung und erklärte, dass diese Verantwortung die Siegermächte zu tragen hätten. Ihm trat der Redakteur Klages entgegen, der die Mithilfe des deutschen Volkes für seine eigene Entwicklung unterstrich und auf die Gefahr hinwies, die durch das Drängen Westdeutschlands nach Atomwaffen entstehe.
Auch im Schlussgespräch dieser Akademietagung trat Pfarrer Vibrans negativ auf und erklärte, die Kommunisten behaupteten, in den »Westsendern« und den »Westzeitungen« werde der »Kalte Krieg« geschürt. Seiner Meinung nach sei aber das, was im »Neuen Deutschland« stehe, ebenfalls »Kalter Krieg«. Auch bei dieser Diskussion entgegnete der Redakteur Klages, man müsste unterscheiden zwischen einer Polemik und der Hetze des »Kalten Krieges«. Er verwies dabei auf die Polemik, die der Offene Brief der SED an die SPD entfacht habe.28
Die Leiterin der Evangelischen Akademie, Fräulein Adler,29 die auch die Diskussion leitete, fasste zum Schluss der Tagung das Thema in fünf Fragen zusammen:
- 1.
Habe ich mein Urteil über Polen revidiert?
- 2.
Wo bin ich während der Gespräche über die Haltung von Deutschen selbst erschrocken und habe festgestellt, dass sie von Polen infrage gestellt wird?
- 3.
In dieser geschichtlichen Stunde ist es so, dass Deutsche den ersten Schritt tun müssen. Welches ist der erste Schritt für mich?
- 4.
Ich möchte versuchen, mehr Leute davon zu überzeugen, dass es ein unbedingtes Ja zur Oder-Neiße-Grenze geben muss.
- 5.
Es müsste mehr in Richtung Rapacki-Plan30 gedacht werden. In Polen denkt man wohl immer etwas universal menschlicher als wir.
Zusammenfassend ist zu bemerken, dass in der Diskussion eine Reihe Teilnehmer positiv auftraten. Einige Pfarrer, Vibrans, Lischke/Dessau31 und Frank/Halle32 traten mit negativen und provokatorischen Diskussionen in Erscheinung.
Die Leiterin der Evangelischen Akademie, Fräulein Adler, war der Diskussion offensichtlich nicht gewachsen.
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