Tödliche Verletzung eines LPG-Bauern in Viehle
3. Januar 1966
Einzelinformation Nr. 2/66 über die tödliche Verletzung eines LPG-Bauern in Viehle, [Kreis] Hagenow, [Bezirk] Schwerin infolge Schusswaffenanwendung durch Angehörige der NVA/Grenze
Am 1.1.1966, gegen 2.50 Uhr, erfolgte durch die Grenzposten der 2. Grenzkompanie Neu Garge1 Gefreiter [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Grimmen, [Straße, Nr.], Kandidat der SED, NVA seit 1.11.64/Postenführer und Soldat [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Berlin-Pankow, [Straße, Nr.], parteilos, NVA seit 3.5.1965/Posten in der Ortschaft Viehle die Anwendung der Schusswaffe gegen das LPG-Mitglied Lill, Alfred,2 geboren 11.3.1933, wohnhaft in Viehle, [Kreis] Hagenow, Mitglied des Vorstandes der LPG Typ III,3 Mitglied der SED seit 1959, freiwilliger Helfer der Grenztruppen, verheiratet, vier Kinder.
Lill ist vorbestraft: 1957 zu sechs Monaten Gefängnis wegen unbefugten Waffenbesitzes und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Weiterhin wurden 1960 ein E-Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer und 1964 ein E-Verfahren wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt eingeleitet. Letzteres wurde jedoch eingestellt.
Lill erlitt dabei Schussverletzungen im Unterleib, an deren Folgen er auf dem Transport ins Krankenhaus verstarb.
Durch die abgegebenen Schüsse wurde außerdem die in der Nähe des Lill stehende Brandt, Rotraut,4 geboren [Tag, Monat] 1943, wohnhaft in Gülstorf, [Kreis] Hagenow, verletzt. Sie erhielt einen glatten Hüftdurchschuss.
Nach den vom MfS geführten Untersuchungen lag der Schusswaffenanwendung folgender Sachverhalt zugrunde:
Das Ehepaar Lill hatte gemeinsam mit dem Ehepaar Brandt sowie dem [Vorname Name 3] aus Gülstorf und dem Jugendlichen Januschewski, Günter5 aus Viehle in seiner Wohnung Silvester gefeiert. Am 1.1.1966, gegen 1.35 Uhr, begaben sich das Ehepaar Brandt und der Jugendliche [Vorname Name 3] von Viehle aus auf den Heimweg nach Gülstorf, obwohl ihnen bekannt war, dass sie sich nur bis 1.00 Uhr auf den Straßen – laut Grenzordnung6 – aufhalten durften. Auf ihrem Weg von Viehle entlang dem Elb-Deich nach Gülstorf (500-m-Sperrgebiet)7 wurden sie vom Postenpaar Gefreiter [Name 1] und Soldat [Name 2] bemerkt und zum Zwecke der Durchführung einer Kontrolle angerufen und aufgefordert, stehen zu bleiben. Diesem Anruf leistete nur der [Vorname Name 3] Folge. Brandt ging indessen weiter und kam auch der Aufforderung, sich entsprechend auszuweisen, nicht nach. Der Postenführer befahl deshalb seinem Posten, bei dem Jugendlichen [Name 3] zu bleiben. Er selbst folgte dem Ehepaar Brandt, wobei er diesem den Weg abschnitt. Nach nochmaligem Anruf blieb auch das Ehepaar Brandt stehen. Der Postenführer, Gefreiter [Name 1], teilte den unter Alkoholeinfluss stehenden Personen Brandt und [Name 3] mit, dass sie bis zur Klärung durch einen Offizier festgenommen sind. Während der Posten, Soldat [Name 2], die Grenzkompanie verständigte, begannen die gestellten Personen Postenführer [Name 1] gröblichst zu beleidigen. Außerdem begaben sie sich zurück zum Wohnhaus des Lill nach Viehle. Gefreiter [Name 1], der dies verhindern wollte, tätigte einen Warnruf und gab mehrere Warnschüsse ab, ohne dass die Personen darauf reagierten.
In der Zwischenzeit war der Lill, Alfred aus seinem Haus herausgetreten und schrie den Postenführer an: »Heute ist Silvester, verschwindet, sonst knallts!« Gefreiter [Name 1] versuchte den Lill zu beruhigen und ihm zu erklären, dass ein Offizier der Grenzkompanie den Fall klären wird. Darauf äußerte Lill, »wenn Du nicht abhaust, hau ich Dir die Lampe über den Kopf, dass Du zusammenbrichst«, und begann, gegen den Postenführer tätlich zu werden. Dies versuchten die Ehefrau des Lill und die Ehefrau des Brandt zu verhindern. Lill jedoch schlug mit seiner Stabtaschenlampe auf den Diensthund des Gefreiten [Name 1] ein und versuchte die Waffe des Gefreiten [Name 1] an sich zu reißen. Postenführer [Name 1] konnte Lill jedoch abwehren und machte ihn darauf aufmerksam, dass er bei einem erneuten Angriff die Schusswaffe anwenden wird. Trotz dieser Warnung ging Lill erneut mit zum Schlag erhobener Taschenlampe auf den Postenführer zu. Postenführer [Name 1] forderte Lill deshalb erneut auf, stehen zu bleiben und gab, als Lill dieser Aufforderung nicht befolgte, einen Warnschuss ab. Lill reagierte darauf nicht, sondern er versuchte erneut, den Postenführer tätlich anzugreifen. Daraufhin gab Gefreiter [Name 1] aus einer Entfernung von vier bis fünf Metern einen gezielten Feuerstoß auf Lill ab.
Lill wurde dabei durch die Schüsse in den Unterleib getroffen. An den Folgen der Verletzung ist der Lill auf den Transport zum Krankenhaus nach Neuhaus verstorben. Ein weiterer Schuss hatte die in der Nähe des Lill stehende Rotraut Brandt mit einem Durchschuss an der rechten Hüfte verletzt. Die Brandt befindet sich im Krankenhaus Neuhaus in Behandlung. Ob Lill bei seinem Vorgehen gegen den Postenführer eventuell aus politischen Motiven handelte, kann noch nicht eingeschätzt werden. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass sich Lill in stark angetrunkenem Zustand befand.
Beide Posten wurden mit sofortiger Wirkung aus dem Grenzdienst zurückgezogen und zur weiteren Dienstdurchführung zum 8. GR Grabow versetzt.
Die SED-Bezirksleitung Schwerin und die SED-Kreisleitung Hagenow sind von diesem Vorkommnis unterrichtet und haben entsprechende Maßnahmen für die politische Arbeit eingeleitet.
Vom MfS wurden Maßnahmen zur Absicherung der an diesem Vorkommnis beteiligten Personen und zur Aufklärung und Verhinderung eventuell feindlicher Einflüsse getroffen.