Treffen zwischen Günter Jacob und Kurt Scharf in Genf
22. Oktober 1966
Einzelinformation Nr. 797/66 über einige Äußerungen leitender evangelischer Geistlicher zur kirchenpolitischen Situation in Deutschland, besonders im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Vorsitzenden des Rates der EKiD, Bischof Scharf
Dem MfS wurde bekannt, dass der Ratsvorsitzende der sogenannten Evangelischen Kirche Deutschlands und Bischof der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg für Westberlin, Kurt Scharf,1 Mitte September in der Schweiz mit Generalsuperintendent Jacob/Cottbus2 zu einem Gespräch zusammentraf. (Scharf reiste aus der ČSSR kommend, wo er sich mit seiner in der DDR wohnhaften Tochter Ingeborg Scharf3 sowie mit Prof. Hromádka/Prag,4 Präsident der Prager Christlichen Friedenskonferenz getroffen hatte, in die Schweiz ein. Jacob befand sich zu dieser Zeit in dem kirchlichen Erholungsheim des Evangelischen Hilfswerkes der Schweiz für Besucher der Kirchen aus den sozialistischen Staaten Casa Locarna).
Das Zusammentreffen in der Schweiz war von beiden seit längerer Zeit vereinbart worden, wobei besonders folgende Punkte behandelt werden sollten:
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nächste Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg am 17.1.1967 in Westberlin und in der Hauptstadt der DDR,5
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Synode der Evangelischen Kirche (EKD) im März 1967, während der die Neuwahl des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche Deutschland (bisher Bischof Scharf) stattfinden soll.6
Offensichtlich ging es Scharf bei dieser achtstündigen Unterredung um eine Beilegung der zwischen ihm und Jacob bestehenden Differenzen. (Auseinandersetzungen bestanden besonders nach der Wahl Scharfs zum Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg auf der Synode im Februar 1966. Sie verstärkten sich vor allem aufgrund der Nichteinhaltung des damit im Zusammenhang stehenden Versprechens von Scharf, Jacob zum Bischofsverweser für die Gebiete der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg in der DDR auf Lebenszeit zu bestellen. Diese Vereinbarung war anlässlich einer Zusammenkunft zwischen Scharf und Jacob Ende 1965 in Lund/Schweden getroffen worden.)7
Während des Gesprächs mit Jacob habe sich Scharf besonders mit folgenden Äußerungen zu rechtfertigen versucht, offensichtlich auch aus den Erwägungen heraus, dass Generalsuperintendent Jacob und seine Anhänger in Anbetracht der erwähnten beiden bevorstehenden kirchenpolitischen Ereignisse einen gewissen Einfluss auf die Kirchen der DDR ausüben könnten.
Scharf habe Jacob gegenüber bedauert, dass er die in Lund/Schweden getroffenen Vereinbarungen nicht habe einhalten können. Aber offensichtlich sei – so habe die Aussprache ergeben – ein Teil der Missstimmungen auf ein Intrigenspiel und böswillige Zwischenträger zurückzuführen, die an einer Verfeindung zwischen ihnen interessiert seien.
Scharf und Jacob hätten in ihrer Unterredung dahingehend übereingestimmt, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen in der kirchenpolitischen Entwicklung der DDR eine Verschärfung bevorstehe, der man nur mit »verstärkter Gemeinsamkeit« begegnen könne. Unter diesem Aspekt habe sich Bischof Scharf bereiterklärt, seine in Lund/Schweden gegebenen Zusagen zu verwirklichen und zu präzisieren. Danach werde Jacob auf Betreiben Scharfs auf der kommenden Synode durch die Kirchenleitung zum Bischofsverweser eingesetzt. Gleichzeitig beabsichtigt Scharf, eine Erklärung abzugeben, seine Amtsgewalt ausschließlich auf Westberlin zu beschränken und dem Bischofsverweser für den Teil der Landeskirche, der sich auf dem Territorium der DDR befände, die volle Verantwortung zu überlassen.
Weiter sei zwischen Scharf und Jacob eine solche Übereinkunft getroffen worden, Jacob solle sich dafür verwenden, mit der Regierung der DDR eine sogenannte »umgekehrte Bengsch-Lösung« für die Person Scharf »auszuhandeln«.8 Es sei in diesem Zusammenhang von Scharf in Erwägung gezogen, seinen Wohnsitz zwar in Westberlin zu behalten, jedoch regelmäßig Passierscheine für Amtshandlungen und Visitationen im DDR-Teil der Landeskirche Berlin-Brandenburg in Anspruch zu nehmen. Generalsuperintendent Jacob solle der Regierung der DDR bei etwaigen Verhandlungen zu verstehen geben, dass der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands seine mit der »Vertriebenendenkschrift« begonnene »fortschrittliche Linie« mit der in Vorbereitung befindlichen »Friedensdenkschrift«, die auch einen umfassenden Abschnitt zur deutschen Frage enthalte, fortsetzen werde.9
Sollte Generalsuperintendent Jacob die von Scharf entwickelte »Lösung« eventuell in Verhandlungen mit Paul Verner10 und dem Staatssekretär für Kirchenfragen Seigewasser11 »durchdrücken« können, sei Bischof Scharf auch bereit, Oberkonsistorialrat Ringhandt12 und Präses Hildebrandt13 aus dem evangelischen Konsistorium der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg in der Hauptstadt der DDR abzuziehen und eventuell in unteren kirchlichen Bereichen der DDR einzusetzen.
Sei während des Gesprächs in der Schweiz zwischen Scharf und Jacob in diesen Punkten Übereinstimmung erzielt worden, habe man sich hinsichtlich der Beurteilung des von Bischof Scharf unterzeichneten Briefes an alle Pfarrer der sogen. EKiD – in welchem er Bischof Dibelius14 für die von dieser geleisteten Arbeit den Dank ausspricht – nicht einigen können.15 Jacob sei in dieser Aussprache bei seiner Meinung geblieben, dass dieser Brief keine Distanzierung, sondern eine Befürwortung der gesamten Kirchenpolitik von Dibelius bedeute, während Scharf die Ansicht vertrete, eine Distanzierung sei in diesem Schreiben deutlich gemacht worden.
In individuellen Gesprächen mit anderen Geistlichen der DDR befürwortete Generalsuperintendent Jacob die mit Scharf in der Schweiz getroffenen grundlegenden Vereinbarungen und Feststellungen. In diesem Zusammenhang führte Jacob auch aus, während der Gespräche in Lund/Schweden habe es zwischen ihm und Scharf keinerlei Vereinbarungen hinsichtlich der politischen Linie der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg gegenüber der DDR gegeben.
Jacob äußerte nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, er sei trotz der Rechtfertigungsversuche Scharfs und aller neuerlichen Versprechungen weiterhin sehr misstrauisch; es bliebe Fakt, dass Scharf die Abmachungen von Lund/Schweden nicht eingehalten habe.
Dem MfS wurde bekannt, dass sich Bischof Scharf auch anderen Personen gegenüber – offensichtlich in dem Bestreben, seine Neuwahl als Vorsitzender des Rates der EKiD auf der Synode im März 1967 vorzubereiten und seine Position gegenüber der DDR auszubauen – in ähnlicher Form wie gegenüber Superintendent Jacob äußerte, dabei sogenannte Zugeständnisse machte und seine angebliche loyale bis positive politische Haltung in den Vordergrund zu spielen versucht. Dabei laufen seine Bemühungen auch darauf hinaus, »entsprechende Grundlagen« für die Erlangung von Genehmigungen für die Einreise in die DDR zu schaffen, nachdem dies in den letzten Jahren aufgrund seiner Haltung gescheitert war.
So erklärte sich z. B. Bischof Scharf in internen Gesprächen angeblich bereit, im Falle seiner Neuwahl den Amtssitz der Leitung der sogen EKiD von Westberlin in die Hauptstadt der DDR zu verlegen. Um ständig in die DDR einreisen zu können, wäre er angeblich auch bereit, den Vorsitz des Rates der EKiD niederzulegen und nur noch die Funktion des Bischofs von Berlin-Brandenburg auszuüben. Scharf soll weiterhin Wert darauf legen, gegenüber in der DDR einflussreichen Geistlichen »richtigzustellen«, dass angeblich westliche Presseberichte über von Scharf gegebene Interviews häufig »völlig entstellt« und »falsch« gewesen seien. Es würde ihm von DDR-Seite vorgeworfen, er würde sich lediglich für die Bundesrepublik einsetzen; in Wirklichkeit entspreche das nicht den Tatsachen. Er fände jedoch mit seinen tatsächlichen Anschauungen – z. B. mit seiner Haltung zur »Vertriebenendenkschrift« im Sinne der DDR-Politik – kein Gehör. Scharf soll außerdem seine »persönlichen Bedenken« zur in der DDR vorliegenden »Handreichung zur Seelsorge« mehrfach zum Ausdruck gebracht haben.16
Auf die gegenwärtige Situation in Deutschland eingehend, würde Bischof Scharf gegenüber bestimmten Personen eine solche »Einstellung« vortragen, er lehne den Alleinvertretungsanspruch der Regierung der Bundesrepublik17 ab und sei auch gegen eine Atombewaffnung der Armee der Bundesrepublik.18 In diesem Zusammenhang habe er sich auch gegen eine Einmischung der Bonner Regierung in die Passierscheinverhandlungen19 sowie in die Gespräche SED – SPD verwahrt.20 Ferner habe sich Bischof Scharf wiederholt für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen.21
Diese politische Einstellung haben er – Scharf – und andere Ratsmitglieder der sogenannten EKiD wiederholt vor einflussreichen Bonner Gremien zur Sprache gebracht.
Dort habe er – Scharf – auch »Bedenken« gegen den »Militärseelsorgevertrag« angemeldet.22 Nach Äußerungen Scharfs seien die westdeutschen Kirchen zu einer Kündigung des Militärseelsorgevertrages bereit, wobei sie sich jedoch darüber im Klaren seien, dass eine andere »Festlegung« getroffen werden müsste. Diese »Festlegung« könnte nach Meinung Scharfs angeblich so erfolgen, dass Verträge der einzelnen westdeutschen Regionalkirchen mit den regionalen Militärkommandanturen abgeschlossen würden. Damit würde die Verantwortung für den Militärseelsorgevertrag von der Leitung der EKiD auf die einzelnen Landeskirchen übertragen.
Dem MfS wurde ferner bekannt, dass Generalsuperintendent Jacob während seines Aufenthaltes in der Schweiz auch mit dem Militärbischof Kunst/Bonn23 zusammentraf.
Während dieses Gesprächs habe Kunst u. a. erklärt,
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er beabsichtige seine Funktion als Militärbischof abzugeben, vorläufig jedoch in der Funktion des Bevollmächtigten des Rates der EKiD bei der Bonner Regierung zu verbleiben;
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es seien »ernsthafte Erwägungen« vorhanden, Bischof Kunst im März 1967 als Nachfolger von Bischof Scharf zum Vorsitzenden des Rates der EKiD zu wählen.
Bischof Kunst teilte ferner mit, er habe in Vorbereitung der Reise der Bonner Delegation, die unter Leitung von Bundeskanzler Erhard24 zu Besprechungen in den USA weilte, in Washington aufgehalten. Er habe dort im amerikanischen Außenministerium über die Koordinierung kirchlicher Beziehungen der USA und Westdeutschland »zum Eindringen in die sozialistischen Staaten Europas« Unterredungen geführt.
Weiter wurde bekannt, dass sich Generalsuperintendent Jacob intern gegenüber einigen Personen über eine Unterredung unter vier Augen äußerte, die er angeblich während des Empfangs zum 17. Jahrestag der DDR mit Genossen Paul Verner gehabt haben will.25 Paul Verner habe ihm den »Vorwurf« gemacht, dass er die Gelegenheit, Bischofsverwalter zu werden, nicht wahrgenommen habe, zumal er rechtlich bereits Bischofsverwalter gewesen sei. Auf die Entgegnung Jacobs, er sei zurückgetreten, weil er keine Klarheit besessen hätte, ob er auch die Unterstützung des Staates erhielte, habe Paul Verner erklärt, er würde diese Unterstützung bekommen, falls er jetzt noch Verwalter im Bischofsamt würde. Jacob brachte zum Ausdruck, ob Genosse Verner nicht bei der Verwendung der Formulierung »Verwalter im Bischofsamt« »Verweser im Bischofsamt« gemeint hätte, da er bei einer Beibehaltung des »Verwalteramtes« doch nach wie vor von Bischof Scharf abhängig sei, als »Verweser« aber für das Gebiet der DDR selbständige Entscheidungen treffen könnte. Paul Verner habe ihm weiter zu erkennen gegeben, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Staat und Kirche könne vom Staat aus noch lange gehalten werden, würde hingegen die Kirche in immer größere Schwierigkeiten bringen. Jacob habe Paul Verner in diesem Punkt beigepflichtet.
Generalsuperintendent Jacob habe die Gelegenheit des internen Gesprächs mit Paul Verner aber auch dazu benutzt, ihm seine Meinung darzulegen zu einer angeblichen Absicht, Bischof Scharf gegen ein »Entgelt« bzw. eine »Kaution« von mehreren Millionen oder Milliarden Westmark in die DDR einreisen zu lassen. Er, Jacob, verurteile eine Durchkreuzung kirchenpolitischer Konzeptionen durch ökonomische Interessen und Vereinbarungen, die sich auf die gesamte Kirchenpolitik in der DDR negativ auswirken würden. Falls von der DDR-Regierung nunmehr keine Einwände mehr gegen eine Einreise Scharfs in DDR-Gebiet erhoben würden, werde er, Jacob, in Konflikte verwickelt und verliere DDR-Geistlichen gegenüber an Autorität, da er sich zu bestimmten Anlässen öffentlich gegen Scharf gestellt habe.
Dem MfS wurde weiterhin bekannt, dass Scharf – offensichtlich ebenfalls in der Absicht, seine Position in der EKiD zu halten und noch zu verstärken – auch Verbindung zu dem Theologieprofessor Markus Barth26 aufnahm und ihn nach persönlichen Rücksprachen veranlasste, seine – Scharfs – »positiven Ansichten« zur kirchenpolitischen Lage in Deutschland an möglichst einflussreiche Persönlichkeiten der Regierung der DDR zu vermitteln. Bischof Scharf habe, um diese Konzeption durchzusetzen, Prof. Markus Barth auch schriftlich gebeten, das Fazit seiner Auffassungen und Haltung, ebenfalls schriftlich an verantwortliche Funktionäre in der DDR zu übersenden, wobei diese Auffassungen im Wesentlichen mit den in der Information bereits geschilderten, übereinstimmen. (Markus Barth – Sohn des Schweizer Theologen Karl Barth27 – Theologieprofessor am Theological Seminary Pittsburgh, lehrte in der Zeit von August 1965 bis August 1966 zwei Semester Theologie als Gastdozent an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald.)
Markus Barth hatte aufgrund seines Ausländerpasses die Möglichkeit, laufend Westberlin aufzusuchen. Vermutlich hat Barth diesen Umstand genutzt, mit Bischof Scharf in Westberlin des Öfteren zusammentreffen.
Offensichtlich ist Markus Barth unter Ausnutzung seiner in der DDR erworbenen »Kenntnisse« auch jetzt noch bemüht – z. B. durch schriftliche Verbindungen von den USA aus –, zu einer »Annäherung« der evangelischen Kirchen der DDR und Westdeutschland beizutragen. Deshalb wurde von ihm vermutlich auch die Absicht Bischofs Scharfs hinsichtlich einer Vermittlung seiner persönlichen Haltung aufgegriffen und unterstützt.
Nach den Vorstellungen Markus Barths wäre es zweckmäßig, wenn er zwischen Staatssekretär Seigewasser und Bischof Scharf ein gemeinsames Gespräch im Hause seines Vaters Karl Barth/Schweiz vermitteln könnte, wobei diese Zusammenkunft angeblich der Normalisierung des Verhältnisses zwischen der DDR-Regierung und Bischof Scharf dienen könnte.
Markus Barth verbreitet die Auffassung, bei Scharf handle es sich nicht um einen Opponenten, für den ihn die Regierung der DDR fälschlicherweise halte. Scharf verhalte sich vielmehr gegenüber der Politik der DDR und der der Bonner Regierung loyal bzw. vertrete in vielerlei Hinsicht – was Markus Barth durch entsprechende Beispiele zu belegen versucht – die Haltung der Regierung der DDR.
Seiner Meinung nach wäre eine Aufrechterhaltung der Einreisesperre für Scharf in die DDR nicht gerechtfertigt. Ungünstig wirke sich aus, dass es Bischof Scharf durch entsprechendes öffentliches Auftreten bzw. durch »Vorausleistungen« – bedingt durch seine persönliche Psyche – nicht verstanden habe, der Regierung der DDR seine tatsächlichen Auffassungen nahezulegen.
Bei seinen »Bestrebungen« zu einer »Annäherung« der Kirchen in Deutschland beizutragen, verweist Prof. Markus Barth wiederholt auf seine Kenntnis der kirchenpolitischen Lage in Deutschland.
Dazu wurde dem MfS bekannt, dass Barth über seine »Eindrücke« von der DDR eine ausführliche schriftliche Arbeit verfasste, die gegenwärtig jedoch lediglich in englischen Fassungen existiert und noch nicht vorliegt.28
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