Übersetzung&Verbreitung von Havemanns »Dialektik ohne Dogma«
25. Januar 1966
Einzelinformation Nr. 56/66 über weitere Verbreitung des Buches von Havemann »Dialektik ohne Dogma« im kapitalistischen Ausland
Dem MfS wurde zuverlässig bekannt, dass von Havemann1 – mit der Unterstützung des Rowohlt Verlages Hamburg – verstärkte Anstrengungen zur weiteren Verbreitung seines Buches »Dialektik ohne Dogma«2 im kapitalistischen Ausland und auch in Westdeutschland unternommen wurden.3
Nach den vorliegenden Informationen erfolgt gegenwärtig die Auslieferung dieses Buches durch die Verlage Einaudi, Italien und Gyldendalske Boghandel, Kopenhagen, während bei den Verlagen Het Spectrum, Utrecht, Holland, Maliebaan 10 a, Ariel, Frankfurt/Main, Am Industriehof 7–9 und Kebun Do, Tokio, die Vorbereitungen zur Herausgabe noch laufen.4
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auf Veranlassung von Havemann durch den Rowohlt Verlag Maßnahmen eingeleitet wurden, um zusätzlich zu dem in Westdeutschland veröffentlichten Text noch das »Vierte Seminar« (vom 7.2.1964) mit aufzunehmen.5 Für dieses »Vierte Seminar« hatte sich Havemann alle Rechte selbst vorbehalten.
Die beim italienischen Verlag Einaudi herausgegebene Auflage »Dialettica senza dogma«6 enthält bereits den Text dieses »Vierten Seminars« – es steht unter dem Thema »Über die Ungleichheit der Menschen«. In der Einleitung bringt Havemann zum Ausdruck, dass es die letzte Lektion des Semesters sei, er es aber für unbedingt notwendig hält den begonnenen Kursus im nächsten Semester fortzusetzen. Als »Begründung« führt er an, seine Vorträge hätten »mehr oder minder scharfe Kritik« hervorgerufen, aber auch viel Zustimmung. Objektive Einwände seien ihm nicht entgegengesetzt worden. Keiner der eifrigen Kritiker wäre auch bereit gewesen, obwohl er wiederholt dazu eingeladen hätte, im Seminar darüber zu diskutieren. Er hoffe aber, dass die Einwände nicht heimlich, sondern in der »Öffentlichkeit« vorgetragen werden.7
Der wesentlichste Inhalt dieses »Vierten Seminars« richtet sich gegen die idealistische Lehre des Determinismus, wobei im Prinzip auch nachgewiesen wird, dass die Ungleichheit der Menschen soziale Wurzeln hat. Die eigentlichen Absichten Havemanns werden lediglich am Schluss dieser Lektion sichtbar. Er erklärt dort u. a.:8
»Um die soziale Ungleichheit völlig abzubauen, die die freie Betätigung der menschlichen Individualität in ihrer reichhaltigen Vielfalt verhindert, müssen wir die hierarchische Struktur der Gesellschaft zerstören. Denn die kommunistische Bewegung tendiert auf die Vernichtung des Staates hin. Tatsächlich: Solange die staatliche Organisation besteht, besteht auch die Hierarchie. Die Auflösung des Staates, der Übergang zur kommunistischen Gesellschaft ist ein langer, schwieriger und sehr widersprüchlicher Prozess.
Man kann nicht einfach von heute auf morgen den Staat vernichten, mit einem Dekret. Der Staat ist solange eine soziale Notwendigkeit, solange wir nicht imstande sind, unseren sozialen Bedingungen eine gerechte Ordnung zu geben. Wenn diese Ordnung einmal erreicht ist, haben wir eine staatliche Organisation nicht mehr nötig.
Schon Lao Tse9 hat den tiefen Widerspruch zwischen der Staatsordnung und der Freiheit gesehen. Eine staatliche Ordnung schien ihm umso wünschenswerter, je weniger sie sich in das Leben des Volkes einmischte.
…10 Aber wann können wir die Regeln und die Gesetze vernichten? Wann hört der Staat, der alles leiten und überwachen will, auf zu existieren? Wie für Lao Tse vor 2 500 Jahren, ist auch für uns dieses Ziel bloß eine Hoffnung, die Mission einer fernen Zukunft. Aber wir wollen uns nicht nur beim Gedanken an diese großen Ideen begeistern und alsdann nach Hause gehen …11 Es genügt nicht, die Welt zu interpretieren und ihre traurige Unvollkommenheit sich bewusst zu machen und ihr die große Utopie der Freiheit entgegenzusetzen, überlassen wir das den Philosophen. Folgen wir den Worten von Marx:12 wir wollen die Welt verändern. Wir sollten vorwärts gehen mit dem festen Entschluss, dazu beizutragen, dass wir uns diesen Zielen real nähern. Wir müssen auf unserem Weg weitergehen und nicht anhalten, wir müssen Mut haben und in uns den Drang fühlen, für die Freiheit der Menschen und für ihr Glück zu kämpfen …«13
Die von dem namhaften italienischen Verlag Einaudi besorgte Auflage, in der erstmalig der Text dieses »Vierten Seminars« aufgenommen wurde, ist mit einem Vorwort von Cesare Cases14 versehen, der im Allgemeinen als einer der besten Sachkenner deutscher Belange in Italien gilt. Die von Cases gemachten Angaben über das Leben und den »Kampf« von Havemann stützen sich weitgehend auf entsprechende Veröffentlichungen des »Spiegels«.15 Als Zweck der Herausgabe dieses Buches wird angeführt, damit die Diskussion in der Kultur der Linken in Italien beleben zu wollen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass diese italienische Ausgabe des Buches von Havemann durch die »Unità« vom 5.1.1966 äußerst positiv rezensiert wurde,16 wie nachfolgende Auszüge verdeutlichen:17
»Die Polemik Havemanns ist nicht gegen den Kommunismus, sondern für den Kommunismus, nicht gegen den Marxismus, sondern für den Marxismus. Sie ist in starkem Maße gegen jene Philosophen gerichtet, die (in gutem Glauben) behaupten, Kommunisten und Marxisten zu sein, die aber wegen ihres Dogmatismus ein großes Hindernis für die revolutionäre und schöpferische Entwicklung der Wissenschaft, des Denkens und der sozialistischen Gesellschaft darstellen.
Unserer Ansicht nach ist es kein Zufall, dass die dogmatischen Marxisten, die von dem ›galileischen‹ Marxisten Havemann mit solchem Eifer kritisiert werden, unter den Inhabern der Lehrstühle für den ›dialektischen Materialismus‹ an den Universitäten des sozialistischen Deutschlands und denen der Sowjetunion zu finden sind. Die Trennung der materialistischen Dialektik von der eigentlichen wissenschaftlichen Forschung, die Havemann zu Recht kritisiert, ist ebenfalls ein typisches Merkmal an den Universitäten der sozialistischen Länder; diese Trennung hat sich im Laufe der Umwandlung des Marxismus (der materialistischen Dialektik) zu einer starren Materie herauskristallisiert.
Sie führte dazu und wird weiter dazu führen, dass eine Art von dogmatischen Entstellungen üblich wurde.
Die Fortdauer einer solchen Entwicklung steht im Widerspruch zu der Erneuerungs- und Fortschrittsbewegung, die in den sozialistischen Ländern nach dem XX. Parteitag18 begann. Sie ist unserer Ansicht nach eine Form der Organisierung der Kultur im Gegensatz zu jener Bewegung, die deshalb früher oder später verändert werden muss.
Das geschieht nicht ohne Kämpfe, Widersprüche und schmerzliche »Fälle« wie der Havemanns.«19
Wie dem MfS weiter zuverlässig bekannt wurde, hat sich der Herausgeber des »Spiegel«, Augstein,20 Anfang Januar des Jahres persönlich an Havemann gewandt und sein »Bedauern« darüber ausgesprochen, dass die Veröffentlichung des Beitrages »Plädoyer für eine neue KPD«21 bei ihm, Havemann, zu Schwierigkeiten geführt habe. Augstein wiederholte dabei die bereits in der Ausgabe des »Spiegel« vom 3.1.1966 enthaltene Version über eine angebliche Verfälschung des Beitrages von Havemann, wofür aber auf keinen Fall der »Spiegel« verantwortlich zeichne.22 Deshalb sei auch die »Richtigstellung« von Havemann sofort abgedruckt worden. Der Abdruck des Beitrages im »Spiegel« sei auf der Grundlage des von Jungnickel23 zugestellten Manuskripts erfolgt. Der »Spiegel« hätte auch in keinem Falle behauptet, dass das Manuskript aus einer Zusammenarbeit zwischen Havemann und Apel24 entstanden sei. Zur Vermeidung weiterer Unstimmigkeiten sichert Augstein Havemann zu, sich künftig in alle diesbezüglichen Probleme selbst einzuschalten.
Im Interesse der Sicherheit der Quellen dürfen die Angaben über die weitere Verbreitung des Buches von Havemann durch die genannten Verlage und über die Erklärung von Augstein publizistisch nicht ausgewertet werden.