US-amerikanischer Theologe zu Besuch in der DDR (1)
14. September 1966
Einzelinformation Nr. 694/66 über den Aufenthalt von Prof. Dr. Charles West in der DDR
Wie vom MfS in der Einzelinformation 671/66 mitgeteilt wurde, hält sich Prof. Charles West,1 Missionar, Professor für Christliche Ethik am Princeton Theological Seminary/USA, in der Zeit vom 9. bis 22.9.1966 in der DDR auf. (West war von Carl Ordnung/CDU,2 nationaler Sekretär der Prager Christlichen Friedenskonferenz,3 zu einer Studienreise in die DDR eingeladen worden.)
Über den Aufenthalt von Prof. Charles West in der DDR wurde bisher Folgendes bekannt:
West reiste am 8.9.1966 (bereits einen Tag vor dem festgelegten Programm), aus Westberlin kommend, in die DDR ein. Am 8. und 9.9.1966 hielt er sich im Gebäude des »Ökumenischen Dienstes Berlin«,4 Johann-Georg-Straße, auf. Dort traf er an beiden Tagen zu persönlichen Gesprächen mit Carl Ordnung zusammen. West beabsichtigte, sich durch das Zusammentreffen mit Ordnung einen weiteren Überblick über die Kirchen in der DDR und in Deutschland zu verschaffen.
West hielt am 9.9.1966 im Gebäude des »Ökumenischen Dienstes« einen Vortrag zum Thema »Die Ohnmacht der Mächtigen«.
Am 10.9.1966 sprach West vor 15 Mitgliedern des Abrüstungsausschusses der Prager Christlichen Friedenskonferenz im Gebäude der Gossner Mission.5 (Vorsitzender des Ausschusses ist Pfarrer Bruno Schottstädt,6 Leiter der Gossner Mission in der DDR.)
Die beiden von West am 9. und 20.9.1966 gehaltenen Vorträge beinhalteten folgende Tendenzen:
Eine Analyse der Innen- und Außenpolitik der europäischen und der nichteuropäischen sozialistischen Staaten ließe keinen beachtenswerten Unterschied erkennen. Die europäischen Staaten konzentrierten sich nach Chruschtschows7 »Sturz« auf den Aufbau des Sozialismus in ihren Ländern und beachteten das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Nachbarstaaten. Ein bedeutendes Beispiel dafür sei die DDR in ihrem Verhältnis zu Westdeutschland und Westberlin. Die nichteuropäischen Staaten dabei besonders China und Nordvietnam, richteten ihr Hauptaugenmerk auf die »kommunistische Infiltration«, die Organisierung von Bürgerkriegen und die »Unterwanderung« der Nachbarstaaten. Die USA müssten den Krieg gegen Nordvietnam im Süden und Norden in der Eskalation weiterführen, um die Kräfte Nordvietnams, in gewisser Hinsicht auch Chinas, so zu binden, dass deren Infiltrationsabsichten in Laos, Kambodscha, Thailand wegen Kräftemangels unmöglich würden. An einen Truppenabzug der USA sei deshalb nicht zu denken.8 Es gehe nicht um Vietnam – das sei nur noch der Ort der Kräftebindung des Gegners – es gehe um Südostasien. Dabei stabilisiere sich die Lage in Südvietnam. Ky9 sei zwar kein seriöser General, aber er habe in letzter Zeit immerhin Verhandlungserfolge. Die USA würden in nächster Zeit das sogenannte Kennan-Modell10 in den Vordergrund spielen. Danach würden sich die US-Truppen in Südvietnam in die Städte zurückziehen, die Bombardierung würde fortgesetzt und Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsfront Südvietnams würden begonnen werden. In den Verhandlungen solle es außerdem darum gehen, dass sich Nordvietnam verpflichtet, seine Aktivität in den Nachbarstaaten einzustellen.
West ließ in seinen am 9. und 10.9.1966 gehaltenen Vorträgen ferner erkennen, er beabsichtige, in den mit staatlichen Vertretern der DDR geplanten Gesprächen diesen nahezulegen, dass sie ihren Einfluss auf Nordvietnam dazu benutzen, damit sich Nordvietnam der europäischen sozialistischen Politik anschließt.
West charakterisierte im weiteren Verlauf seiner Ausführungen Nordvietnam als einen totalitären Staat. Der Präsident Ho Chi Minh11 sei nur mit Gewalt und Terror an die Macht gekommen. Eine Lösung des Vietnam-Problems ließe sich nur über eine Veränderung der Verhältnisse in Nordvietnam erreichen. Wenn in Nordvietnam ein »etwas liberaler Staat« nach dem etwaigen Muster des ungarischen, polnischen oder tschechoslowakischen sozialistischen Staates entstehen würde, könne sich Amerika aus Vietnam zurückziehen. Gleichzeitig dazu müsste die UNO mehr »ins Spiel gebracht« werden. Das mache erforderlich, dass U Thant12 unbedingt in seinem Amt bleibt. Im Rahmen der UNO wären die USA bereit, mit der Sowjetunion über Vietnam zu verhandeln. Allerdings müsse die Initiative dazu von der Sowjetunion kommen. Seiner Meinung nach sei der Ausgang des Krieges in Vietnam ungewiss, da vonseiten der USA-Militärs die Gesetze des Partisanenkampfes ungenügend erforscht seien.
Am 10.9.1966 in der Zeit von 18.00 bis 22.00 Uhr führte West ein ausführliches Gespräch mit Pfarrer Bassarak,13 Internationaler Sekretär der Prager Christlichen Friedenskonferenz, Berlin. Bassarak gegenüber vertrat er die gleichen »Anschauungen« zum Vietnam-Problem. Außerdem vertrat West in diesem Gespräch folgende, die DDR und die Kirchen der DDR betreffende Tendenzen:
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Er führte an, er sei 1961 das letzte Mal in der DDR gewesen. Durch den Mauerbau am 13.8.1961 hätten sich die Möglichkeiten des innerkirchlichen Kontaktes, der Information und des Austausches verringert.
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Namhafte Geistliche, die sich vor 1961 in der DDR in einer gemeinsamen Gruppierung befunden hätten – z. B. Oberkirchenrat Ringhandt/Berlin,14 Pfarrer Hamel/Naumburg,15 Generalsuperintendent Jacob/Cottbus,16 Generalsuperintendent Schönherr/Eberswalde17 und andere – seien zersplittert und bildeten keinen »gemeinsamen Block« mehr. Es müsse ein Weg gefunden werden, wie sie wieder zusammenzuführen seien.
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In der DDR sei der Dialog zwischen Christen und Marxisten zurückgegangen, was sich wohl daraus erkläre, dass die dafür geeigneten Marxisten entweder »emigriert« (Bloch),18 »liquidiert« (Havemann,19 Harich)20 oder »eingesperrt« seien.
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Es hätte doch vor und nach 1961 eine Reihe von kirchlichen Einrichtungen gegeben, die »ideal« gewesen wären für den Dialog zwischen Christen und Marxisten, z. B. die Hauskreise.
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Eine existierende Nachfolgeorganisation sei zurzeit die Gossner Mission – das »dialogische Phänomen« nach Ansicht von West.
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Er habe das Gefühl, dass sich diese Dinge in der ČSSR günstiger entwickelt hätten.
Dem MfS wurde bekannt, dass der Aufenthaltsplan Wests in der DDR geändert wurde. Die für den 13./14.9.1966 vorgesehenen Zusammenkünfte mit Pfarrer Feurich21 und Dr. Frielinghaus22 fallen aus, dafür beabsichtigte West in Naumburg Pfarrer Johannes Hamel aufzusuchen.
In Jena wird West am 19. und 20.9.1966 nicht wie ursprünglich festgelegt mit Studentenpfarrer Klaus-Peter Hertzsch,23 sondern mit Prof. Dr. Olof Klohr24 (Lehrstuhl für Atheismus an der Universität Jena) zusammentreffen.
Wie ferner ermittelt wurde, beabsichtigt West, im Anschluss an den DDR-Aufenthalt Besprechungen mit Visser’t Hooft/25ehemaliger Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Bischof Scharf/Westberlin26 und Missionsdirektor Brennecke/DDR27 in Frankfurt/Main zu führen. Anschließend will er nach Prag, Warschau, Budapest und zur Teilnahme am »Fortsetzungsausschuss« der Prager Christlichen Friedenskonferenz (Bafa) nach Sofia reisen.28 Ab 1.11.1966 – nach fünfjähriger Universitätstätigkeit über die kommunistische Entwicklung in Europa und Asien – beabsichtigt West einen etwa einjährigen Studienaufenthalt in Südostasien und in den europäischen sozialistischen Staaten.
Über den weiteren Aufenthalt Wests in der DDR wird nachberichtet.
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