Verbreitung von selbstgefertigten Flugblättern durch Jugendliche
29. März 1966
Einzelinformation Nr. 244/66 über die Verbreitung von selbstgefertigten Hetzflugblättern durch Jugendliche in den Bezirken Dresden, Cottbus, Leipzig und Halle
Durch das MfS wurde am 10.3.1966 gegen den [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1945 in Osterode, Beruf Forstfacharbeiter, zuletzt Sachbearbeiter für Kraftfahrzeuge im VEB Kühlanlagenbau Dresden, wohnhaft Dresden [Straße, Nr.], Haftbefehl gemäß § 19 StEG1 wegen Anfertigen und Verbreiten von Hetzflugblättern erwirkt.
Am 14.3.1966 wurde weiter gegen die Jugendlichen [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1946 in [Ort], Schlosserlehrling mit Abiturabschluss im Walzwerk Hettstedt, wohnhaft Mansfeld, [Straße, Nr.], [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1944 in Roßwein, Beruf Forstfacharbeiter, zuletzt Forstfacharbeiter in der LPG Zähschütz,2 Kreis Döbeln, wohnhaft Roßwein, [Straße, Nr.], [Name 4, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1948 in Roßwein, wohnhaft Roßwein, [Straße, Nr.], Haftbefehl gemäß § 19 StEG erlassen, weil sie von [Name 1] erhaltene Hetzflugblätter selbständig weiterverbreitet hatten.
Die vom MfS geführten Untersuchungen ergaben Folgendes:
[Name 1, Vorname] fertigte ab Januar 1966 in den Arbeitsräumen des VEB Kühlanlagenbau Dresden, wo er als Sachbearbeiter für Kraftfahrzeuge beschäftigt war, ca. 800 Hetzflugblätter an. Zur Herstellung dieser Flugblätter benutzte er die seinem Arbeitsgebiet zur Verfügung stehende Schreibmaschine, betriebseigenes Papier und Ormigplatten3 sowie den Abzugsapparat seines Betriebes.
Zur Herstellung der Hetzschriften verblieb [Name 1] nach Beendigung der regulären Arbeitszeit unter dem Vorwand, wichtige Arbeiten verrichten zu müssen, etwa ab Januar 1966 des Öfteren länger, teilweise bis 21.00 Uhr, unkontrolliert im Betrieb. (Vom Betrieb wurde nicht bemerkt, dass [Name 1] unberechtigt den Abzugsapparat benutzte und eine größere Menge Schreibpapier verbrauchte.) Die gefertigten Hetzschriften bewahrte [Name 1] teilweise im Schreibtisch seines Arbeitszimmers auf.
Zirka 100 Exemplare der selbstgefertigten Hetzschriften wurden von [Name 1] erstmalig Ende Januar 1966 nachts auf dem Bahnsteig 14 des Hauptbahnhofes Dresden abgelegt. Ferner verteilte er am 19. und 20.2.1966 in der Toilette und auf dem Hof der HO-Gaststätte »Haus des Handwerks« in Senftenberg weitere 32 Flugblätter und am 22.2.1966 ca. 500 Stück im Stadtgebiet von Dresden.
Anfang Februar 1966 veranlasste [Name 1] seine Freundin [Name 5, Vorname], Postangestellte im Postamt in Ruhland, vier Päckchen mit je ca. 50 Hetzflugblättern von ihrer Arbeitsstelle aus an verschiedene Empfänger ohne Angabe des Absenders zu verschicken. Der [Name 5] gegenüber gab [Name 1] zum Inhalt der Päckchen lediglich an, dass er den Empfängern »eine Freude« bereiten wolle. Die Postangestellte [Name 5] kam auch dem Ersuchen des [Name 1] nach, den Postaufgabestempel so auf die Päckchen aufzudrücken, dass der Aufgabeort nicht zu erkennen war.
Unter den Empfängern dieser Päckchen befanden sich die bereits genannten Jugendlichen [Name 2] und [Name 3]. [Name 1] gab an, beide Personen durch gemeinsame Lehrausbildung bzw. Urlaubsreisen näher kennengelernt zu haben. Aufgrund der ihm bekannten negativen Einstellung dieser Jugendlichen zur DDR, habe er mit ihrer Unterstützung bei der Verbreitung der Hetzflugblätter gerechnet.
Von den Jugendlichen [Name 2] und [Name 3] wurden die erhaltenen Hetzflugblätter, ohne dass sie über deren Herkunft Kenntnis hatten, verteilt, wobei [Name 3] den Jugendlichen [Name 4, Vorname] mit einbezog.
Der Jugendliche [Name 2] legte die Hetzflugblätter in Briefkästen, öffentlichen Schaukästen und in einer Telefonzelle in Gernrode aus, wozu ihm, wie er aussagt, seine ablehnende Einstellung zur sozialistischen Entwicklung in der DDR und Verärgerung gegen die örtlichen Organe bewogen.
[Name 3] und [Name 4] kamen überein, aus Sicherheitsgründen die Flugblätter nicht in ihrem Wohnort Roßwein abzulegen, sondern in Döbeln. In den Abendstunden des 15.2.1966 brachten sie die Hetzflugblätter auf dem Bahnhof Döbeln und durch Einwerfen in Hausbriefkästen in Döbeln zur Verbreitung. Während [Name 3] die Verbreitung der Hetzschriften aufgrund seiner negativen Einstellung zur DDR vorgenommen haben will, sagt [Name 4] aus, an dieser Handlung teilgenommen zu haben, weil ihn [Name 3] andernfalls als Feigling bezeichnet hätte.
Der Jugendliche [Name 1] hat die Oberschule besucht. Er gehört der FDJ, der GST und dem FDGB an. Der Vater des [Name 1] ist Mitglied der SED und als stellvertretender Abteilungsleiter im VEB Braunkohlenwerk Brieske-Ost/Materialwirtschaft tätig.
[Name 1] erklärte zu den Motiven seiner strafbaren Handlungen, er habe besonders seit Anfang des Jahres 1965 die Hetzsendungen des »Deutschlandfunks« verfolgt und sei dadurch feindlich beeinflusst worden. Infolge seiner negativen Einstellung zur DDR habe er geplant, durch systematische Herstellung und Verbreitung von Hetzflugblättern einen großen Kreis von Personen »gegen die DDR aufzuwiegeln«.
Entsprechend dieses »Planes« entwarf [Name 1] die in der Anlage abschriftlich beigefügten zwei Hetzschriften, die er dann mit der im VEB Kühlanlagenbau Dresden zur Verfügung stehenden Schreibmaschine auf Ormigplatten übertrug und mit dem Abzugsapparat dieses Betriebes vervielfältigte.
2 Anlagen4
Anlagen zur Information Nr. 244/66
[Abschrift zweier undatierter Flugblätter]
Zwei Fünftel eines Volkes seufzen unter dem Joch absolutistischer Diktatur. – Welch entsetzliche Zeit; unsägliches Leid für Verstehende und für seelisch Empfindsame. – Kahle, brüchige Zellen in düsterer und schmerzender Umgebung – Aufgeben? –
Eine rettungslose, – anders – eine Wüste ohne Hoffnung: so war mein Denken, zeitliche Gedanken eines unreifen Menschen, dem Verstehen und Überblick fehlten, und der sich nur träumend voller Phantasie an unerlebten Glückseligkeiten entzückte. – Ich habe diese Krankheit besiegt, aber, wird dieser, anfangs vielleicht natürliche Zustand auch von jedem überwunden, nach dem unsäglichen Verlauf der deutschen Geschichte? – Nein! – Und darin liegt die ganze Widersprüchlichkeit, die schwer zu begreifen ist, wenn eben die heutige Mentalität des Deutschen unbeleuchtet bleibt. – Man darf nicht bedauern, nicht verurteilen, sondern nur helfen, denn es geht um unser Vaterland, um unsere Ehre als Deutsche!, wir dürfen nicht untreu sein! Bekämpft diesen schon einverleibten Egoismus, begreift, was wir verlieren können!
Wir müssen uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit erhalten. Hoffnung hegen, aber niemals verzagen!
Verfolgt man ab 1949 die Spaltungsinitiative »der« sowjetzonalen Machthaber, so kann man dabei eine gewisse Systematik feststellen: planmäßig, Schritt für Schritt, streben sie nur einem Ziel entgegen, die russische Besatzungszone vollends vom anderen Teil unseres Vaterlandes abzureißen! Primitiv heuchelndes, abscheuliches, ja abstoßendes Gewimmer, voll von Phrasen und Lügen, das sind ihre »Rechtfertigungen«! Kameraden, Deutsche, ihr müsst euch emploxieren [sic!], lesen und hören – die Wahrheit vernehmen! Ihr müsst die große Gefahr erkennen, die mit unverminderter Geschwindigkeit auf uns zurast, versagt diesen Verbrechern eine seelische Unterwerfung, es lässt uns die kritische Situation überdauern. Denn nur noch kurze Zeit, vielleicht vier oder fünf Jahre müssen vergehn? Dann werden sich Türen öffnen und Mauern zerbersten, dann werden Tränen der Freude, sich auf gequälten Wangen Bahn brechen. Es ist der Tag der Erlösung und der kleine Satz: wir sind frei, wird uns unter Schluchzen aus dem Innersten hervorquellen. Lauter und vernehmlicher werden die Lautsprecher in die Welt hinausschrein, um jedem zu sagen, wir haben gesiegt, wir haben uns in Freiheit geeint, wir sind glücklich! Freilich kann ich heute noch nicht den genauen Zeitpunkt sagen, das ist wie gesagt ungewiss. Nur darf euch diese Ungewissheit des Zeitpunktes nicht schwach und wankend machen, sie soll euer Trost sein! Ungewissheit, ein zeitliches Wort, es liegt am Menschen allein, es zu verwandeln! Und dieser Augenblick – Bewährung unserer Treue!
Meine letzten Zeilen, die schon so mit Bestimmtheit von einem kommenden integrierten Deutschland sprechen, entspringen meinem großen Vertrauen zu euch Kameraden!
Also, haltet das Nationalgefühl wach, dieses herrliche Gefühl, das ein Volk vereint!
Kämpfen wir für Wiedervereinigung und Freiheit, kämpfen wir für ein Deutschland!5
Zur Information:
Auf kommenden Blättern wird anhand von Beispielen die antinationale Politik des Ulbrichtregimes bewiesen.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich auch noch die Entstehung und Entwicklung des kommunistischen Russlands behandeln werde. (Russland nimmt innerhalb des Ostblocks eine Sonderstellung ein – nicht nur wegen seiner Größe und seiner daraus resultierenden Omnipotenz.)
(Heym – treu zur deutschen Kunst – siehe Elaborat in der NDL/11)!6
-vBd-7
Zu Beginn einiges zur Information:
- 1.
Ulbricht lud vor kurzem Schriftsteller zu einem »zwanglosen Gespräch« ein. Solcherlei »Beratungen« werden in regelmäßigen Abständen durchgeführt!
- 2.
Nach Biermann ist nun auch Krug als ein weiterer guter Künstler in Ungnade gefallen!
- 3.
Das Minenfeld an der Zonengrenze ist mit zwei Reihen erweitert worden. Es wird sogar erwogen, eine zwei Meter hohe Mauer entlang der Demarkationslinie aufzubauen. Versuchsstücke bestehen bereits in der Gegend von Salzwedel.8 Man rühmt sich in gewissen Kreisen schon heute, die modernste Grenze der Welt zu besitzen!
Unrecht, – ein Resultat der Dummheit und Sucht? – sie kennen die Schuldigen, aber niemand bricht – ja …, ja sie huldigen!
Warum, warum so schwach? – kann man es denen verzeih’n, die sich sonnen, satt machen, wenn ein Vaterland nach Hilfe schreit?
Das Leben wird immer unerträglicher. Man erwehrt sich alter deutscher Tradition, man versucht, das Nationalgefühl in uns zu töten, soll darum wieder gerungen werden?
Seid stark im Glauben, es liegt in Eurer Hand, das zu erhalten, wofür auch schon einmal Herder kämpfte – Wir dürfen uns nicht verlieren, wir müssen die Flamme speisen, damit eines Tages ein großes Feuer unser Gemüt aufhellen kann!
Erwartet nicht etwas, an dessen Vollbringung ihr mithelfen müsst! Zeigt, dass Ihr noch lebt, dass Ihr Deutsche seid!
Keine anderen Völker werden uns helfen, uns erlösen, sie haben mit uns nur das Natürliche gemeinsam!
Auch wenn Russland noch nach wie vor mit seiner quantitativen Stärke wie ein schwarzes Ungeheuer auf uns lastet, wir müssen es von uns werfen!
Nun noch kurz einige Worte zum Grenzsoldaten der sogenannten Volksarmee:
Werde nicht zum Verbrecher, gewissenloser Einsatz wird sich später rächen! – Er bringt vielleicht eine zeitliche Vergünstigung ein, aber … überlege doch!
Eine Diktatur ist nie von Dauer, das beweist auch die Geschichte. Sie wird einmal auch hier zerbrechen!
Meine Bitte:
Halte Dein Gewehr nicht bewusst auf einen Fliehenden, sei tapfer, sei Mensch! – Niemand wird auf Dich schießen, schenke Deinem Vorgesetzten keinen Glauben, auch er gehört nur zur Masse der Ausführenden!
Arbeiten und streben wir alle nach Erfüllung, welch hohes Glück auch vollenden zu dürfen!
»Das schlimmste Gift: an eigener Kraft verzagen.«
Kämpfen wir für Wiedervereinigung und Freiheit, kämpfen wir für ein Deutschland!