Verhalten von Entlassungskandidaten der NVA
13. April 1966
Einzelinformation Nr. 281/66 über Erscheinungen und Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion unter einem Teil der zur Entlassung stehenden Angehörigen der NVA
In allen Truppenteilen der NVA gibt es in letzter Zeit unter den zur Entlassung stehenden NVA-Angehörigen Erscheinungen einer sogenannten »EK-Bewegung« (»Entlassungskandidaten-Bewegung«).1 Diese Bewegung wird auch durch den Gegner – vor allem durch Flugblatt- und Hetzschriftenaktionen – aktiv unterstützt mit dem Ziel, den Personalbestand ideologisch zu zersetzen und die Einsatz- und Kampfbereitschaft der Verbände und Einheiten der NVA zu schwächen. Im Wesentlichen handelt es sich bei dieser »EK-Bewegung« um einen meist losen Zusammenschluss von NVA-Angehörigen, die vor ihrer Entlassung stehen und teilweise durch undiszipliniertes Verhalten ihrer Unlust zum weiteren Dienst in der NVA Ausdruck verleihen. Das trifft u. a. besonders auf Einheiten der Grenzregimenter Oschersleben, Eisenach, Dermbach, Hildburghausen, Plauen, auf Schiffsbesatzungen und Einheiten der Volksmarine zu.
Unter einem Teil des Personalbestandes dieser Einheiten ist eine gewisse »Heimgängerstimmung« vorherrschend, die sich auch negativ auf die übrigen NVA-Angehörigen dieser Einheiten sowie auf die unmittelbare Dienstdurchführung auswirkt.
Charakteristisch für diesen Personenkreis ist das
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Führen von »EK-Kalendern« zum Abstreichen der Tage bis zur Entlassung;
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Aufbewahren von Bandmaßen zum Abzählen der noch zu leistenden Diensttage. (Täglich wird 1 cm von diesem Maß abgeschnitten);
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Anfertigen und Verbreiten von »EK-Abzeichen« und anderen symbolischen »Heimgängerandenken«;
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Anfertigen und Verbreiten von »EK-Ausweisen«, »Urkunden«, Hetzschriften und pornografischen Schriften;
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Provozierende Auftreten gegenüber Vorgesetzten und nachlässige Dienstdurchführung.
In einzelnen Fällen wurden solche Gruppierungen auch auf der Grundlage eines festen Programms gebildet. Zum Beispiel wurden im Ausbildungs-Bataillon Dingelstedt durch den Soldaten [Name 1] andere NVA-Angehörige der Einheit aufgefordert, der »EK-Bewegung« beizutreten. Dabei wurde festgelegt, dass [Name 1] der »Kommandeur« und Gefreiter [Name 2] der »Stabschef« dieser Bewegung sei. Das »Programm der EK-Bewegung« beinhaltete Folgendes:
»An die EK des VEB Landesverteidigung
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Die restliche Zeit – 150 Tage – gemeinsam vergammeln. Wer dagegen verstößt, muss dreimal fünf Flaschen Weinbrand bezahlen.
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Wer den ›EK-Ausweis‹ nicht bei sich trägt, muss einen Kasten Bier bezahlen.
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Jeden 20. eines Monats ist gemütliche ›EK-Runde‹.
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Beim Ausgang haben jüngere Soldaten zugunsten der ›EK‹ zurückzutreten.
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Die ›EK‹ sind vom Küchenpersonal bevorzugt zu bedienen.«
In der Praxis zeigt sich die Durchführung solcher »Programme« dann oft in gemeinsamen Trinkabenden wie in der Sicherungskompanie Herder,2 GR Eisenach, wo seit Mitte Januar 1966 in allen Zügen sogenannte Abschiedsfeiern ohne Wissen der Vorgesetzten durchgeführt werden. Von den Soldaten wird dazu die Meinung vertreten, dass solche Feiern zur Tradition gehören.
Auf dem MLR-Schiff 212, 1. Flottille, wurde ein Wimpel gefertigt, der die Form und das Grundmotiv eines FDJ-Emblems hat. Der Wimpel trägt die Aufschrift: »28. April 1966 – EK – GA V« und die Namen der Mitglieder der Gruppierung.
Auf dem Schiff 411, 1. U-Jagd-Abt., 1. Flottille, fertigten sich die zur Entlassung stehenden NVA-Angehörigen »EK-Abzeichen« und spezielle Kalender an. Die Kalender wurden u. a. am 28.4.1966 (Entlassungstermin) mit der Bemerkung versehen: »Hier fällt der Hammer!«
Der Stabsmatrose [Name 3] vom Schiff 431 der 1. Flottille erhielt Post mit der Anschrift: »St. Matrose EK [Vorname Name 3]«.
[Name 3] war auch im Besitz eines »EK-Bandmaßes«, wovon er unter den Beifallsrufen anwesender Mannschaftsdienstgrade herausfordernd einen Zentimeter abschnitt.
In der Grenzkompanie Heinersgrün, GR Plauen, fertigte der Gefreite [Name 4] sieben »EK-Urkunden« auf Lichtpause an. Diese Urkunden wurden in der Unterkunft in Form eines »Appells« den zur Entlassung kommenden Soldaten mit dem Titel »Entlassungskandidat« verliehen. Anschließend fand ein Trinkgelage statt.
Im PR 1, 1. MSD, MB V, wurden bei dem Soldaten [Name 5] gedruckte Einladungskarten für »EK-Versammlungen« gefunden. [Name 5] gehörte dem »EK-Vorstand« dieser Einheit an.
In der Grenzkompanie Geisa, GR Dermbach, bestickte der Postenführer [Name 6] neun Lederbinder mit der Aufschrift »Rhön ade – 1966«. Weiter fertigte er spezielle Schulterstücke für die in seiner Einheit zur Entlassung stehenden NVA-Angehörigen an.
Weit verbreitet sind auch solche Hetzschriften wie: »Tagebuch eines 80,00 MDN-Soldaten«3 und »Soldatenleben in Filmtiteln«,4 die einen negativen Einfluss auf die NVA-Angehörigen ausüben. Dabei handelt es sich um selbstgefertigte Hetztexte gegen die NVA, die abgeschrieben bzw. mit Schreibmaschine vervielfältigt wurden.
Diese »Entlassungsstimmung« äußert sich aber nicht nur in den vorerwähnten Formen, sondern auch in offenen Äußerungen der Unlust, in Disziplinlosigkeit und Gleichgültigkeit in der Dienstdurchführung. Zum Beispiel äußerte der Gefreite [Name 6] von der 10. Grenzkompanie, GR Dermbach, gegenüber seinem Vorgesetzten: »Ich brauche den Dienst bis zu meiner Entpflichtung nicht mehr ernst zu nehmen. Ich bin sowieso unfreiwillig zur NVA gekommen. Ich habe mit der Grenzkompanie nichts mehr gemein und zähle nur noch die Tage bis zu meiner Entpflichtung.« In der 4. Kompanie des GR Hildburghausen wurde bei einer Alarmübung von einem Soldaten gerufen: »Wenn der Spieß pfeift – lasst euch Zeit!« Im Bereich des Grenzregiments Eisenach wurden von den Posten während des Grenzdienstes die Postentüren mit Entlassungslosungen beschmiert, wie z. B.: »Es ist nicht mehr weit, es kommt die Abschiedszeit.«
Zu groben Verstößen gegen die militärische Disziplin kam es u. a. im Munitionslager der VM Sehlen auf Rügen. Am 7.2.1966 wurde ein Matrose wegen unvorschriftsmäßiger Anzugsordnung aus dem Fernsehraum verwiesen. Daraufhin verließen auch andere NVA-Angehörige demonstrativ den Raum und störten die weitere Fernsehsendung, indem sie die Sicherung aus der Fassung schraubten. Bei den Beteiligten handelt es sich ausschließlich um zur Entpflichtung stehende NVA-Angehörige.
Neben der Beleidigung und Anpöbelung von Offizieren und anderen Dienstvorgesetzten wurde u. a. durch Randalieren und Zerschlagen von Gegenständen in der Unterkunft der »Freude« über die baldige Entlassung aus der NVA Ausdruck verliehen. Zum Beispiel nahmen einige Matrosen in der Gaststätte der Ortschaft Sehlen größere Mengen Alkohol zu sich. Anschließend besuchten sie eine Kinoveranstaltung im Ort, wo sie dermaßen randalierten, dass die Vorstellung unterbrochen werden musste. Gegen 24.00 Uhr kehrten sie im angetrunkenen Zustand unter Absingen eines faschistischen Liedes in die Dienststelle zurück, wo sie Einrichtungen des Stabsgebäudes und der Unterkunft beschädigten.
Insgesamt ist einzuschätzen, dass die Mehrzahl der dieser »EK-Bewegung« angehörenden NVA-Angehörigen den zersetzenden Charakter nicht erkennt und sich der Tragweite ihres schädlichen Verhaltens nicht voll bewusst ist. In allen bekannt gewordenen Fällen wurden die im Zusammenhang mit diesen Gruppierungen festgestellten Vorkommnisse mit den Kommandeuren und Politoffizieren der jeweiligen Einheiten ausgewertet, um Maßnahmen zur weiteren Einengung der »EK-Bewegung« treffen zu können.