Verlauf der Leipziger Frühjahrsmesse (2)
9. März 1966
Einzelinformation Nr. 179/66 über den Verlauf der Leipziger Frühjahrsmesse 1966 (2. Bericht)
Nach dem Stand vom 8.3.1966, 23.00 Uhr, sind folgende ausländische, westdeutsche und Westberliner Messegäste in Leipzig eingereist:1
[Staaten] | 1966 | 1965 |
|---|---|---|
Sozialistische Staaten | 3 656 | 3 987 |
Imperialistische Paktstaaten2 | 4 097 | 4 038 |
Antiimperialistische Nationalstaaten | 235 | 359 |
Sonstige kapitalistische Länder | 2 184 | 1 784 |
Westdeutschland | 15 430 | 13 781 |
Westberlin | 3 379 | 3 186 |
Bis zum gleichen Datum reisten 9 493 Touristen aus dem sozialistischen Ausland gegenüber 5 583 zur Frühjahrsmesse 1965 ein. Zur Arbeiterkonferenz3 reisten bisher 1 567 westdeutsche Bürger an.
Eine soziologische Umfrage unter Messeteilnehmern aus Westdeutschland und dem kapitalistischen Ausland ergab, dass 65 % der Besucher an speziellen Branchen interessiert sind. Der Rest der befragten Besucher äußerte sich nur unbestimmt oder gar nicht. Nach anderen Fragen, die gestellt wurden, sind ca. 30 % der Besucher nach Leipzig gekommen, um allgemeine Informationen zu erhalten. Diese Zahlen zeigen, dass der Anteil derjenigen Messebesucher, die nur aus privaten Gründen oder als Sehleute nach Leipzig kommen, mindestens 30 % beträgt, wahrscheinlich aber noch höher liegt. Die bisherigen Zahlen sind nur bedingt brauchbar, da sie erst einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Messebesuchern erfassen und deshalb nicht genügend repräsentativ sind. Weitere Einschätzungen dazu sind erst im Verlaufe der Messe möglich.
Von den in Leipzig anwesenden Messegästen wird ebenso wie von den Messejournalisten die Atmosphäre der Leipziger Messe positiv eingeschätzt. Es wird hervorgehoben, dass die Messe sich in immer stärkerem Maße zu einem echten Forum sachlicher Wirtschaftsgespräche entwickelt. In diesem Sinne hat auch die internationale Pressekonferenz am 8.3.1966 durch ihre Konzentration auf wirtschaftliche Probleme der DDR bei der Mehrzahl der in Leipzig anwesenden westlichen Journalisten einen positiven Eindruck hervorgerufen. Von allen Journalisten wurde mit Aufmerksamkeit registriert, dass im Gegensatz zu den bisherigen Pressekonferenzen keine Vertreter des MfAA der DDR anwesend war.
Für die Gesprächsatmosphäre auf der Messe ist die Konzentrierung auf wirtschaftliche Schwerpunkte charakteristisch. Insbesondere die vielseitigen Angebote der DDR hinsichtlich der Kooperation mit der Wirtschaft anderer Länder haben reges Interesse gefunden.
Von westdeutscher Seite wird allgemein eingeschätzt, dass sich die Atmosphäre gegenüber den westlichen Ausstellern im Vergleich zum Vorjahr geändert habe. Als Anzeichen dafür wird u. a. der Besuch des Genossen Stoph4 auf einer Reihe von Ausstellungsständen westlicher Konzerne angesehen. Insbesondere bei den Konzernen der Eisen- und Stahlindustrie herrscht hinsichtlich der Messe ein ausgesprochener Optimismus. Dieser Optimismus wird u. a. mit den vor der Messe abgeschlossenen Regelungen auf dem Gebiete des Handels zwischen beiden deutschen Staaten (Umbuchungen von Unterkonto 2 auf Unterkonto 1, Festlegungen über den Saldenausgleich)5 sowie mit bestimmten Orientierungen westdeutscher Regierungsstellen über die Eröffnung von Möglichkeiten zur Lieferung von Anlagen in die DDR begründet. Die Konzerne sehen die Möglichkeit einer baldigen Erhöhung des Swings6 und seiner Zusammenlegung. Bei den Anlagenlieferungen sehen die Konzerne die Möglichkeit der Schaffung eines besonderen Plafonds, durch den die Zahlungskonditionen geregelt und die Widerrufsklausel7 für Anlagenlieferungen ausgeschaltet werden könnte.
Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung sinkt bei den Konzernen die Bereitschaft, sich für die handelspolitischen Zielstellungen der DDR bei der Bonner Regierung einzusetzen. Insbesondere wird der Zusammenhang zwischen der Situation auf dem Unterkonto 1 und den Mineralölzahlungen von den Konzernen nicht klar erkannt.
Die erhöhten Bezüge der DSM bei den Konzernen haben offensichtlich nicht erreicht, dass sich die Konzerne für die Erweiterung des Handels stark machen. Starke Auseinandersetzungen mit den westdeutschen Konzernen, insbesondere mit Klöckner und Salzgitter,8 gibt es hinsichtlich der Notwendigkeit der Gegenbezüge von Waren aus der DDR. In den Verhandlungen mit den Konzernen wurde erreicht, dass noch nachträglich Einkäufer nach Leipzig entsandt wurden.
Am 11.3.1966 soll Peter von Siemens9 für einen Tag nach Leipzig kommen. Siemens-Vertretern wurde mitgeteilt, dass Genosse Behrendt10 ein Gespräch mit Peter von Siemens in Betracht zieht.
Die bisherigen Angaben über die Außenhandelstätigkeit sind noch lückenhaft. Umfangreiche Gespräche zwischen den Handelsorganen der DDR und den Handelsorganen sozialistischer Länder betreffen die Entwicklung von Kooperationsbeziehungen. Für die Kooperationsbeziehungen mit jungen Nationalstaaten liegen erste Vorstellungen für Indien, Brasilien und Mexiko vor. Ein breites Angebot von Kooperationsvorschlägen liegt zwischen der DDR und den kapitalistischen Länder Westeuropas vor. Verhandlungen mit Partnern aus Österreich, Frankreich und Italien sind bereits in ein fortgeschrittenes Stadium eingetreten. Hemmend wirkt sich aus, dass die DDR-Partner zwar konkrete Konzeptionen für den Import, jedoch nicht für den Export haben. Es kommt hinzu, dass eine Reihe von Vorschlägen der DDR-Partner ungenügend auf langfristig wirkende Kooperationen orientieren.
Von der DSM wird eingeschätzt, dass das Angebot der DDR auf dem Stabstahl- und Rohrsektor nicht dem Weltniveau entspricht. DSM-Vertreter aus westlichen Ländern äußern, dass unser Sortiment schlecht absetzbar sei. Sie fordern deshalb Preisreduzierungen. Erste Importverträge über Walzstahl wurden mit der ČSSR, Polen und der UdSSR über 11,2 Mio. Valutamark und über Röhren aus Westeuropa und Westdeutschland über 20 Mio. Valutamark abgeschlossen.
Erstmalig anwesende westeuropäische Konzerne, wie die Firma Shell, äußern ihre Zufriedenheit mit dem Ablauf der Leipziger Messe. Der Generaldirektor von Shell, John N. Cooper,11 äußerte, dass er das Gefühl habe, in der DDR unter guten Freunden zu sein und erklärte seine Bereitschaft, sich für die Einreise von DDR-Bürgern nach Großbritannien ohne Travelboard12 einzusetzen.
Der Messestand Ghanas ist trotz des Militärputsches geöffnet.13 Gegenüber Vertretern der DDR erklären ghanesische Vertreter, dass die neue Regierung Ghanas die bisher abgeschlossenen Verträge einhalten werde. Verschiedene Geschäftsleute, die ghanesische Firmen vertreten, wünschen eine Aufrechterhaltung der bisherigen Lieferungen der DDR nach Ghana. Die von der bisherigen Regierung ausgegebenen Lizenzen behielten angeblich ihre Gültigkeit. Eine eindeutige Klärung der Lage war jedoch bisher nicht möglich.
Es bestätigen sich die bereits im ersten Informationsbericht getroffenen Feststellungen über Schwierigkeiten bei der Ausspezifizierung der Exporte der DDR. Eine Reihe von VVB, darunter die VVB Nachrichten- und Messtechnik, die VVB Maschinenexport, die VVB Polygraph und andere, lehnen eine Ausspezifizierung aus Kapazitätsgründen ab. Verschiedentlich lehnen Außenhandelsunternehmen, so Unitechna und Elektrotechnik, die Übernahme von Spezifikationen der VVB aus Marktgründen ab.
Auf der Leipziger Messe ist eine relativ starke politische Aktivität der chinesischen Vertreter festzustellen. Auf dem Messegelände sind Werbematerialien für chinesische Veröffentlichungen aufgetaucht, die vermutlich durch die chinesische Botschaft von Berlin nach Leipzig verbracht wurden, da derartiges Material bei der Kontrolle des chinesischen Messegutes nicht festgestellt wurde.
Vertreter der chinesischen Botschaft suchen in Leipzig Stände von Industriebetrieben und VVB und orientieren sich über Probleme der ökonomischen Entwicklung der DDR, wobei sie ihr Hauptaugenmerk auf Fragen des NÖS,14 der materiellen Interessiertheit15 der Werktätigen und der Zusammenarbeit im RGW richten.
Gegenüber belgischen Ausstellern äußerten chinesische Vertreter, dass China grundsätzlich an einer Erweiterung des Anlagengeschäftes mit der DDR interessiert sei, jedoch Bedenken habe, dass die DDR in jedem Fall abgeschlossene Verträge einhalten werde. Es werde befürchtet, dass die DDR auf Verlangen der UdSSR abgeschlossene Verträge kurzfristig storniert.
Die rumänische Messedelegation unternahm am 7.3.1966 Rundgänge durch die Kollektivausstellungen der sozialistischen Länder. Diese Rundgänge wurden mehr oder weniger als Formsache angesehen. Im sowjetischen Pavillon meldete sich die Delegation lediglich in der Direktion an und verließ sofort die Halle, ohne die Ausstellung besichtig zu haben. Mit den Ausstellungsleitungen der Volksrepublik Bulgarien, Polens, Kubas und Jugoslawiens wurden nur kurze bedeutungslose Gespräche geführt. Der chinesische Ausstellungsleiter dagegen wurde vom Genossen Ionescu16 (Präsident der Handelskammer) ausdrücklich zur großartigen Ausstellung und Demonstration der Erfolge Chinas beglückwünscht. Ionescu begrüßte »den revolutionären Kampf des chinesischen Volkes auf der Basis des Marxismus-Leninismus«. Die chinesische Ausstellungsleitung wurde zu einem Gegenbesuch eingeladen, der am gleichen Tag nachmittags erfolgte.
Die westdeutschen Kontrollen hinsichtlich einreisender Messebesucher bewegen sich im üblichen Rahmen. An verschiedenen Kontrollpunkten werden diejenigen Personen namentlich registriert, die zur Frühjahrsmesse bzw. zur Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz fahren. Verschiedentlich gibt es jedoch indirekte Behinderungen des Transits ausländischer Messebesucher durch die westdeutsche Bundesrepublik und Westberlin. So wird auf dem Flugplatz Berlin-Tempelhof ankommenden Messebesuchern keine Auskunft über die Möglichkeit der Weiterreise nach Leipzig erteilt.
In verstärktem Maße treten auch in der ausländischen Presse offensichtlich von westdeutscher Seite lancierte Hetzmeldungen gegen die Leipziger Messe auf, in denen vor nachrichtendienstlicher Tätigkeit in Leipzig gewarnt wird.
Auch auf der Messe selbst wird versucht, durch Verbreitung falscher Gerüchte über die Handelstätigkeit Unsicherheit zu säen. Westdeutschen Firmen werden bewusst falsche Informationen über die Ordnung des Abschlusses von Außenhandelsgeschäften gegeben.
Vereinzelt wird von westdeutschen Firmen nach wie vor die Sammlung von Anschriften betrieben. Es handelt sich dabei um die bereits bei vorhergehenden Messen bekannt gewordenen Firmen, wie die Pharmaziefirma Pfizer. Die Stahlberatungsstelle Düsseldorf, die in Leipzig ihre Materialien verteilt, ist offiziell mit der Bitte um die Genehmigung zur Sammlung von Adressen an die DDR-Organe herangetreten. Die Genehmigung wurde abgelehnt und auf die Zusammenarbeit mi der Stahlberatungsstelle Freiberg verwiesen.
Westliche Verlage, so der Diogenes-Verlag Zürich, suchen in Leipzig Kontakt zu Schriftstellern der DDR, die im Zusammenhang mit dem 11. Plenum17 kritisiert wurden. Der Diogenes-Verlag hat die Absicht, in der DDR Manuskripte von solchen Schriftstellern zu erhalten und mit diesen Manuskripten einen Sammelband herauszugeben. Maßnahmen zur Überprüfung dieser Aktion sind eingeleitet.
Die Situation in Leipzig ist normal. Besondere Schwierigkeiten treten im Allgemeinen nicht auf. Problematisch ist lediglich die Versorgung der Messegäste mit Quartieren. Vom Messeamt wurden insgesamt 65 000 Betten angemietet, von denen lediglich 12 000 zur freien Vermittlung während der Messe zur Verfügung stehen. Alle anderen Betten sind bereits vor der Messe vergeben worden bzw. von den Vermietern für Stammgäste reserviert. Aus diesem Grunde ergaben sich bei der Zimmervermittlung für alle Kategorien von Messebesuchern verschiedentlich Wartezeiten. Hinzu kommt, dass der Umschlag der Zimmer infolge von längeren Aufenthaltszeiten der Messegäste langsamer vor sich geht. Auch aus sozialistischen Ländern werden mehr Gäste erwartet. So reisen aus Bulgarien anstelle von 4 000 insgesamt 7 000 Gäste an. Der Mangel an Hotelzimmern ist in diesem Jahre noch größer als in den vergangenen Jahren. Vom Reisebüro sind eine Reihe von Maßnahmen festgelegt, um die Zimmersituation zu verbessern. So werden anreisenden Gästen Zimmer in einem Umkreis von 75 km von Leipzig vermittelt. Zusätzliche Zimmer sind gemietet worden. Reisende, die aus Orten bis zu 75 km von Leipzig anreisen, erhalten keine Zimmer vermittelt. Die Effektivität dieser Maßnahmen ist jedoch noch nicht einzuschätzen.
Die Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quellen publizistisch nicht ausgewertet werden.