Vorbereitung und Durchführung der NVA-Musterung im Frühjahr
15. Juni 1966
Bericht Nr. 449/66 über die Vorbereitung und Durchführung der Musterung zur NVA im Frühjahr 1966
Der vorliegende Bericht beinhaltet im Wesentlichen folgende Probleme:
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Unzulänglichkeiten in der Bereitstellung geeigneter Objekte und Räume zur Einrichtung von Musterungsstützpunkten,
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Schwächen und Mängel in der Auswahl und im Einsatz von geeigneten Kadern in den Musterungsstützpunkten,
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Verhalten der Wehrpflichtigen bei der Musterung,
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Wehrdienstverweigerungen,1
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Gewinnung von Soldaten auf Zeit,
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Erscheinungen der politisch-ideologischen Diversion,2
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Unberechtigte Freistellungsanträge,
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Schlussfolgerungen.
Die Frühjahrsmusterung 19663 verlief im Allgemeinen ohne wesentliche Störungen oder besondere Vorkommnisse, die den Gesamtverlauf der Musterung negativ beeinflusst hätten.
Lediglich in organisatorischen Fragen gab es in einigen Kreisen Unzulänglichkeiten, die schon bei den Musterungen in den vergangenen Jahren zu verzeichnen waren und die teilweise den reibungslosen und zügigen Ablauf der Musterung in einigen Musterungsstützpunkten beeinträchtigten.
Bereits in der Vorbereitung der Musterung 1966 gab es in fast allen Bezirken Mängel in der Bereitstellung von geeigneten Räumen für die Musterungsstützpunkte, die sich in mehreren Kreisen anfangs nachteilig auf den Musterungsablauf auswirkten.
Oftmals wurde die Bedeutung geeigneter Räume für den reibungslosen Ablauf der Musterung von den zuständigen staatlichen Organen unterschätzt und erst nach wiederholten Bemühungen durch die WKK den notwendigen Forderungen Rechnung getragen. In mehreren Kreisen war wenige Tage vor der Musterung noch nicht festgelegt, in welchem Objekt bzw. in welchen Räumen die Musterung stattfinden sollte. Aufgrund mangelhafter Vorbereitung wurde in mehreren Fällen in aller Eile auf Räumlichkeiten zurückgegriffen, die den Anforderungen nur ungenügend entsprechen.
Die Ursachen hierfür liegen in einer gewissen Gleichgültigkeit der für die Raumbeschaffung verantwortlichen örtlichen Staatsorgane und in einer ungenügenden Vorbereitungsarbeit der jeweiligen WKK.
Zum Beispiel im Musterungsstützpunkt Bitterfeld, [Bezirk] Halle waren während der gesamten Musterung noch die Handwerker in den Räumen beschäftigt, sodass sich die Wehrpflichtigen und auch das medizinische Personal beschwerten.
Nachteilig wirkt sich in einigen Kreisen aus, dass die Musterungen ständig in anderen Objekten durchgeführt werden, wodurch u. a. auch zusätzliche finanzielle Mittel zur Einrichtung dieser Räume erforderlich sind.
Zum Beispiel im Kreis Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt wurde der zweite Musterungsstützpunkt zum siebten Mal in einem anderen Gebäude eingerichtet. Im Kreis Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg wurde der Musterungsstützpunkt kurz vor der Musterung in ein anderes Gebäude verlegt, sodass sich eine nochmalige Benachrichtigung der Wehrpflichtigen erforderlich machte. In Zukunft soll dieser Stützpunkt in die Gemeinde Hohenerxleben verlegt werden, obwohl dieser Ort mehrere Kilometer von der Kreisstadt entfernt ist und keine Zugverbindung besteht. Es gibt lediglich eine Busverbindung im Berufsverkehr. In Berlin-Mitte fand ebenfalls bisher jede Musterung in einem anderen Objekt statt. Im Bezirk Leipzig wurden in Altenburg, Oschatz und Borna die Räume für die Musterungsstützpunkte erst nach Einschaltung der zuständigen Kreisleitung der Partei zur Verfügung gestellt. Durch die verspätete Bereitstellung der Räume war eine zusätzliche Arbeit der WKK erforderlich, um die von MfNV gegebenen Termine und Befehle zur Bekanntmachung und der Bestellung der Wehrpflichtigen einhalten zu können. Wiederholt wurden die Musterungen auch in solchen Objekten durchgeführt, in denen andere Dienststellen untergebracht sind. Durch den starken Besucherverkehr und die damit verbundenen Unruhen in den Räumen kam es oft zu Beschwerden der Musterungsärzte, weil sie dadurch in ihrer Tätigkeit beeinträchtigt wurden.
Schwächen und Mängel in der Auswahl und im Einsatz von geeigneten Kadern in den Musterungsstützpunkten
In der personellen Zusammensetzung der Kommissionen gab es ebenfalls in fast allen Bezirken Schwächen und Mängel, die auf eine Unterschätzung der Musterung durch die verantwortlichen Organe zurückzuführen waren und die sich zum Teil negativ auf die Qualität der Musterung auswirkten. Wiederholt wurde festgestellt, dass die für die Musterung ausgesuchten und überprüften Mitglieder, Ärzte, medizinischen und technischen Kräfte der Kommissionen durch andere unüberprüfte Kader ausgetauscht wurden. Diese Personen nahmen erstmalig an einer Musterung teil, kannten den Arbeitsablauf nicht und mussten sich erst einarbeiten. Dies trifft vor allem auf einen Teil der eingesetzten Musterungsärzte und Schreibkräfte zu.
Aufgrund dieser Situation ergaben sich in einzelnen Stützpunkten in den ersten Tagen Verzögerungen im Ablauf der Musterung und es kam zu längeren Wartezeiten für die Wehrpflichtigen. In Stralsund waren die für die Musterung vorgesehenen Ärzte nicht rechtzeitig benachrichtigt worden, so dass sie zu Beginn der Musterung nicht anwesend waren. Grobe Mängel gab es auch in der Zusammensetzung der Hilfskräfte der Musterungskommission in Berlin-Mitte, wo von der Abteilung Gesundheitswesen Personen benannt wurden, mit denen in keiner Weise über ihren Einsatz gesprochen worden war. Einige der vorgesehenen Kader befanden sich zum Zeitpunkt der Musterung im Urlaub oder waren durch anderweitigen dienstlichen Einsatz nicht in der Lage, bei der Musterung mitzuarbeiten. Ähnlich verhielt es sich bei technischen Kräften, die von den jeweiligen Betrieben nicht rechtzeitig über ihren Einsatz in Kenntnis gesetzt worden waren. Wiederholt wurden auch Kräfte abgestellt, die für diese Aufgaben völlig ungeeignet waren. Zum Beispiel im Kreis Spremberg, [Bezirk] Cottbus wurde vom Gesundheitswesen für die Hauptuntersuchung ein 67-jähriger, schwerhöriger Pfleger als Schreibkraft eingesetzt. Im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg wurde als Vertreter des Rates ein 83-jähriger Genosse benannt, der nicht in der Lage war, die gestellten Aufgaben zu lösen.
In mehreren Kreisen wurde die Musterung von den Vertretern des Staatsapparates als »notwendiges Übel« betrachtet. Das zeigte sich u. a, darin, dass die vorgesehenen Vertreter des Rates des Kreises oftmals nicht zur Musterung anwesend waren, oder Vertreter beauftragten, die keinen positiven Einfluss auf den Verlauf der Musterung nahmen und lediglich als »Zuhörer« galten. Zum Beispiel nahm im Kreis Delitzsch, [Bezirk] Leipzig kein und in Oschatz, [Bezirk] Leipzig nur zeitweilig ein Vertreter des Rates des Kreises an der Musterung teil. Wiederholt wurden die im Stützpunkt eingesetzten Hilfskräfte von den Betrieben nur für eine kürzere Zeitspanne zur Verfügung gestellt, so dass durch den mehrmaligen Wechsel dieser Kräfte der zügige Musterungsablauf beeinträchtigt wurde. Die neu gesetzten Hilfskräfte waren nur ungenügend mit den organisatorischen Fragen vertraut und mussten sich neu einarbeiten. Im Kreis Rügen, [Bezirk] Rostock wurde selbst der Vorsitzende der Musterungskommission mehrmals ausgewechselt. Insgesamt waren in dieser Funktion vier Offiziere eingesetzt, wovon jedoch nur zwei durch den Leiter der WKK4 bestätigt waren.
Neben vielen Beispielen einer positiven und erfolgreichen Tätigkeit der eingesetzten Agitatoren muss insgesamt eingeschätzt werden, dass die Betriebe, Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen die Aufgaben der Agitatoren während der Musterung teilweise noch unterschätzen. Oftmals wurden Agitatoren zur Verfügung gestellt, die nur ungenügende militärische Kenntnisse, besonders über die Entwicklungsmöglichkeiten und den Stand der Ausrüstung in der NVA, besitzen und die nicht genügend qualifiziert sind, um mit den Wehrpflichtigen nützliche Gespräche zu führen. Wiederholt wurden auch die Agitatoren von den Betrieben während der Musterung mehrmals gewechselt. Dabei wurden oft ältere Genossen als Agitatoren eingesetzt, die über keine militärischen Kenntnisse verfügten und keine Auskunft über den Dienst in der NVA erteilen konnten. Im Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus wurden parteilose Agitatoren eingesetzt, die außerdem auf diese Aufgabe nicht vorbereitet waren, sodass die Kommission die organisatorischen und agitatorischen Aufgaben übernehmen musste.
In mehreren Kreisen wurde auch durch die FDJ-Kreisleitungen während der Musterung nur wenig Einfluss auf die Jugendlichen genommen und eine ungenügende Aufklärungsarbeit geleistet. Unter anderem waren in Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg bei der Musterung weder Vertreter der FDJ noch der GST anwesend, wodurch Fragen der vormilitärischen Ausbildung nur allgemein oder unzureichend beantwortet werden konnten. In Dresden wurden trotz wiederholter Rücksprache mit den FDJ-Kreisleitungen und der FDJ-Stadtleitung nicht die erforderlichen Agitatoren bereitgestellt.
Insgesamt zeigten sich während der Musterung noch große Mängel in der sozialistischen Wehrerziehung. Die Jugendlichen werden – bis auf Ausnahmen – noch nicht zielgerichtet auf ihren künftigen Wehrdienst vorbereitet und haben zum Teil nur ungenügende Vorstellungen von ihrem künftigen Dienst in der NVA und den Aufgaben und Zielen der Landesverteidigung. Die Beschlüsse der Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung5 werden durch die Massenorganisationen – besonders FDJ, GST, DTSB und FDGB – und die Ober- und Betriebsberufsschulen mit sehr unterschiedlicher Intensität verwirklicht. Fragen an die Wehrpflichtigen, wie sie im Betrieb, durch die Massenorganisationen oder in der Schule auf die Musterung und den Dienst in der NVA vorbereitet wurden, ergaben überwiegend, dass mit ihnen nicht oder kaum darüber gesprochen worden war.
Verhalten der Wehrpflichtigen bei der Musterung
Das Auftreten und Verhalten der Wehrpflichtigen war gegenüber allen vorangegangenen Musterungen wesentlich disziplinierter und korrekter. Nur in Einzelfällen machte sich eine Zuführung durch die Volkspolizei erforderlich. Vor den Musterungskommissionen und auch in Gesprächen mit den Agitatoren zeigten die Jugendlichen Interesse an den wehrpolitischen Problemen. Nur vereinzelt traten Wehrpflichtige vor den Musterungskommissionen überheblich und provokatorisch auf.
Zum Beispiel im Musterungsstützpunkt Magdeburg/Mitte erschienen einige Wehrpflichtige in Beatle-Kleidung bzw. mit Beatle-Frisur, die sich undiszipliniert verhielten. Diese Beat-Anhänger wurden durch die übrigen Wehrpflichtigen zur Ordnung gerufen, ohne dass ein Eingreifen der Kommissionsmitglieder erforderlich war. Im Musterungsstützpunkt Berlin-Köpenick erschienen drei Mitglieder der Beat-Gruppe »Echo-Boys«,6 die zum gleichen Zeitpunkt zur gleichen Einheit eingezogen werden wollten. Da es sich jedoch um einen negativ eingestellten Personenkreis handelte, wurden die Maßnahmen zur Einberufung zu verschiedenen Einheiten eingeleitet. In Einzelfällen kamen Wehrpflichtige unpünktlich, unsauber oder in angetrunkenem Zustand zur Musterung, wobei sie sich undiszipliniert verhielten. Vorwiegend handelte es sich dabei um bereits als Gesetzesverletzer oder Rowdys bekannte Jugendliche. Die Betreffenden wurden zurückgewiesen und erneut zur Musterung vorgeladen.
Allgemein kann eingeschätzt werden, dass bei den Wehrpflichtigen gegenüber den vergangenen Jahren eine größere Bereitschaft besteht, ihren Wehrdienst abzuleisten. In allen Kreisen gab es aber auch nicht wenige Wehrpflichtige, die zum Ausdruck brachten, dass sie sich lieber fachlich weiter qualifizieren würden und der Wehrdienst für sie »verlorene Zeit« wäre. Vorwiegend wurde diese Meinung von Schülern der Erweiterten Oberschulen vertreten, die bereits an Hoch- und Fachschulen vorimmatrikuliert sind. Diese Wehrpflichtigen äußerten vor den Kommissionen, dass für sie die Wehrpflicht zurzeit nicht in Frage käme, da sie in Kürze ihr Studium an einer Hoch- oder Fachschule aufnehmen würden.
Diese Meinung wird vor allem dadurch bestärkt, dass vorimmatrikulierte Wehrpflichtige von den Hoch- und Fachschulen eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Musterungskommission erhalten. Aufgrund dieser Bescheinigung sind sie der Auffassung, dass sich die Wehrpflicht für sie erübrigt und sie gleichlaufend mit dem Studium eine militärische Ausbildung auf einem Reservisten-Lehrgang erhalten, die u. a. sogar mit einem Reserve-Offiziers-Dienstgrad enden kann. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Fachschule für Wasserwirtschaft und Melioration Magdeburg Zulassungsbescheide erteilt, auf denen die Zurückstellung vom Grundwehrdienst mit der Begründung beantragt wird, dass an dieser Schule eine Reserve-Offiziers-Ausbildung von ungedienten Studenten erfolgt.
Im Wesentlichen lassen sich die zur Ableistung des Grundwehrdienstes bekannt gewordenen Unklarheiten und ablehnenden Argumente wie folgt zusammenfassen:
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Ohne Wehrpflichtgesetz7 würden sie nicht zur NVA gehen.
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Bei der Armee gebe es keine Freiheit und man sei zu sehr gebunden.
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Die Wehrdienstzeit sei für die berufliche Entwicklung verlorene Zeit.
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Im Beruf könne man mehr Geld verdienen.
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Bei dem hohen Bildungsstand reiche eine sechsmonatige Ausbildung völlig aus.
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Erst qualifizieren, dann der Wehrpflicht nachkommen.
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Ein Studium mit Abschluss als Fachkader sei für den Staat nützlicher als die Dienstzeit bei der NVA.
Das Verhalten der Wehrpflichtigen gegenüber den Agitatoren war unterschiedlich. Ein Teil hinterließ den Eindruck, dass er gegenüber den Agitatoren nicht die wirkliche Meinung zum Ausdruck brachte. Andere legten ihre abneigende Haltung zum Wehrdienst offen dar und begründeten diese sehr unterschiedlich (religiöse Einstellung, Unklarheit über Charakter und Ziel der NVA, Abneigung gegenüber der Untersuchung usw.).
Vereinzelt traten erstmals in den Musterungsstützpunkten Wehrpflichtige auf, die ihr Desinteresse am aktiven Wehrdienst bzw. ihre unklaren Auffassungen offen auf den Einfluss von Westverbindungen oder das Abhören von Westsendern zurückführten.
Wehrdienstverweigerungen
Wie bei allen vorangegangenen Musterungen, doch nicht mehr in diesem Umfang, traten Wehrpflichtige auf, die aus angeblich religiösen Gründen keinen Grundwehrdienst – auch nicht als Bausoldat – leisten könnten.8 Dies wurde vor den Musterungskommissionen in mündlicher und schriftlicher Form zum Ausdruck gebracht und teilweise schon vorher dem WKK schriftlich zur Kenntnis gegeben.
Von den insgesamt 31 308 Wehrpflichtigen des Jahrganges 1947 wurden 241 als Bausoldaten gemustert.
Die Ablehnung des Grundwehrdienstes überhaupt oder des Dienstes mit der Waffe erfolgte im Bereich des
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MB III durch 170 Wehrpflichtige,
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MB V durch 71 Wehrpflichtige.
(Bei den Einberufungsüberprüfungen der Jahrgänge 1940 bis 1945, die vor der Musterung stattfanden, war folgender Stand zu verzeichnen:
[Militärbezirke] | Gesamtüberprüfung an gemusterten Bausoldaten | davon bereit zum Grundwehrdienst | bereit als Bausoldat | generelle Ablehnung | gesundheitlich untauglich |
|---|---|---|---|---|---|
MB III | 358 | 2 | 142 | 210 | 4 |
MB V | 111 | 5 | 66 | 30 | 10 |
Gesamt | 469 | 7 | 208 | 240 | 14 |
Allgemein erklärten diese Wehrpflichtigen, gestützt auf christliche Gebote und Bibelsprüche, dass sie aufgrund ihrer religiösen Einstellung keinen Wehrdienst, gleich welcher Art, leisten können und auch alle sich daraus ergebenden Konsequenzen auf sich nehmen. Vorwiegend handelt es sich dabei um Mitglieder von Religionsgemeinschaften, wie Junge Gemeinde,9 7-Tage-Advendisten, Zeugen Jehovas und andere Gläubige, die teilweise eine starke Beeinflussung durch das Elternhaus, aber auch durch die jeweiligen Kirchen- bzw. Sektenkreise erkennen lassen. Wiederholt wurde festgestellt, dass die von den Wehrpflichtigen abgegebenen schriftlichen Ablehnungserklärungen von Pfarrern ausgearbeitet und geschrieben wurden. In mehreren Fällen berieten sich die Wehrpflichtigen mit dem jeweiligen Pfarrer, wobei auch gemeinsam Ablehnungserklärungen ausgearbeitet wurden.
Im Musterungsstützpunkt Erfurt legte ein Wehrpflichtiger zur Begründung der Wehrdienstverweigerung ein Schreiben des Magdeburger Bischofs Dr. Jänicke10 vor, das er von seinem Pfarrer zu diesem Zweck erhalten hatte. In Bad Langensalza, [Bezirk] Erfurt verweigerte ein Wehrpflichtiger schriftlich den Wehrdienst. Dabei wurde festgestellt, dass der Ortspfarrer die schriftliche Ablehnung verfasst hatte. In Marieney,11 [Kreis]Oelsnitz verweigerte der Pfarrer Popp12 den Wehr- und Wehrersatzdienst und legte schriftlich fest, dass er 18 Monate in einem Bergwerk oder in einer LPG arbeiten wolle.
Der weitaus größte Teil der Wehrdienstverweigerer stellte jedoch Antrag zur Ableistung seiner Dienstpflicht in einer Baupionier-Einheit der NVA. Auch bei diesem Personenkreis handelte es sich um Wehrpflichtige, deren Eltern auf theologischem Gebiet tätig sind bzw. die vom Elternhaus oder Bekanntenkreis offensichtlich in dieser Richtung beeinflusst wurden. Ein weiterer Teil ist an theologischen oder medizinischen Fakultäten bzw. in kirchlichen Einrichtungen beschäftigt.
In Einzelfällen wurde der Wehrdienst aus politischen und anderen Gründen verweigert (Rückkehrer, Erstzuziehende, ehemalige Bundeswehrangehörige). Dabei wird von diesem Personenkreis vorwiegend geäußert, dass sie in die DDR gekommen seien, um sich in Westdeutschland dem Wehrdienst zu entziehen. Sie hätten deshalb auch nicht die Absicht, ihren Dienst in der NVA abzuleisten.
Bei kriminell vorbestraften Jugendlichen bestand teilweise die Vermutung, dass sie aufgrund ihrer kriminellen Delikte nicht zum Wehrdienst eingezogen würden. Vereinzelt versuchten sich Vorbestrafte in den Warteräumen und vor den Musterungskommissionen interessant zu machen und ihre Musterung ins Lächerliche zu ziehen.
Gewinnung von Soldaten auf Zeit
Bei der Gewinnung von Soldaten auf Zeit gab es nach wie vor Schwierigkeiten, so dass die Sollzahlen in mehreren Bezirken nicht erfüllt wurden.
Bei der Ablehnung, als Soldat auf Zeit zu dienen, gebrauchten die Wehrpflichtigen im Wesentlichen folgende Argumentation:
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persönliche, familiäre Gründe,
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finanzielle Gründe,
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negative Beeinflussung durch ehemalige NVA-Angehörige, vor allem Soldaten auf Zeit,
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die berufliche Qualifikation würde darunter leiden,
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die Aufnahme eines Studiums wäre hinfällig bzw. würde sich zu lange verzögern – die vorhandenen Kenntnisse würden verflachen,
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es wäre auch möglich, Unteroffizier zu werden, ohne sich als Soldat auf Zeit zu verpflichten,
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es wäre auch später noch möglich, sich als Soldat auf Zeit zu verpflichten, wenn es bei der NVA gefällt,
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erst wenn es Gesetz ist, drei Jahre zu dienen.13
Außerdem war festzustellen, dass Wehrpflichtige, die in bestimmten Schulen, Betrieben oder Gemeinden konzentriert sind, sich offensichtlich abgesprochen hatten, eine Verpflichtung als Soldat auf Zeit generell abzulehnen.
Während es unter den Wehrpflichtigen der volkseigenen Betriebe oftmals eine größere Bereitwilligkeit zum Dienst als Soldat auf Zeit gab, lehnten vorwiegend Schüler der 10. bis 12. Klassen oder in PGH und kleineren Betrieben beschäftigte Wehrpflichtige eine längere Dienstzeit ab.
Von Wehrpflichtigen aus der Landwirtschaft wurde versucht, als Soldat auf Zeit zu dienen, um nach der Wehrdienstzeit nicht wieder in der Landwirtschaft arbeiten zu müssen und in einen anderen Beruf überwechseln zu können.
Weiterhin war bei einigen Wehrpflichtigen ein offensichtliches Interesse am Einsatz in den Grenztruppen festzustellen. In mehreren Fällen wurde die Bereitschaftserklärung, als Soldat auf Zeit zu dienen, vom Einsatz in den Grenztruppen abhängig gemacht. Dabei wurden die verschiedenartigsten Begründungen angeführt, wie z. B.
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Interesse durch Schilderung des Dienstes durch Bekannte, die im Grenzdienst tätig sind,
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Interesse, weil naturliebend,
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Interesse am eventuellen Einsatz als Hundeführer im Grenzdienst.
Erste Überprüfungen der Motive zu dieser Verpflichtung ergaben jedoch, dass ein beträchtlicher Anteil
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nicht den Bedingungen für den Dienst in den Grenztruppen entspricht,
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aktive Westverbindungen unterhält,
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durch seine politische Einstellung und sein Gesamtverhalten nicht die Gewähr für einen zuverlässigen Schutz der Staatsgrenzen der DDR bietet.
Eine Reihe solcher Fälle lassen auch die Vermutung zu, dass die Verpflichtung als Soldat auf Zeit mit dem Ziel erfolgte, die Möglichkeit zum illegalen Verlassen der DDR zu erhalten.
Besonders bei der Gewinnung von Soldaten auf Zeit zeigte sich die noch ungenügende Arbeit in der sozialistischen Wehrerziehung durch die gesellschaftlichen Organisationen. Vielfach wird dabei versucht, Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den Wehrpflichtigen über die Notwendigkeit der Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes aus dem Wege zu gehen. Zum Beispiel im Kreis Calau, [Kreis] Cottbus wurden durch die FDJ-Kreisleitung dem WKK zwei Jugendliche als Soldat auf Zeit gemeldet. Bei der Musterung erklärten beide jedoch übereinstimmend, dass ihnen davon nichts bekannt sei und mit ihnen darüber nicht gesprochen wurde. Die FDJ-Kreisleitung Pirna, [Bezirk] Dresden verpflichtete sich, im FDJ-Aufgebot 15 Jugendfreunde als Soldat auf Zeit zu gewinnen. Es wurde jedoch nicht ein einziger Jugendlicher geworben.
Die vorliegenden Beispiele zeigen, dass die ideologische Einflussnahme auf die Jugendlichen sehr unterschiedlich ist und ein Erfolg wesentlich von der Intensität und Überzeugungskraft der dafür zuständigen Organe abhängt.
Bemerkenswert ist weiter, dass selbst FDJ-Funktionäre, Kandidaten der SED und Söhne von Partei- und Staatsfunktionären den Dienst als Soldat auf Zeit ablehnten.
Darunter befinden sich u. a.
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der Sohn des Kaderleiters einer BdVP,
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der Sohn des Kaderleiters eines VPKA,
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der Sohn eines ehemaligen 1. Sekretärs einer Kreisleitung der SED,
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Söhne von Mitarbeitern von Kreisleitungen bzw. von Parteisekretären der SED,
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der Sohn des stellvertretenden Oberbürgermeisters einer Stadt.
Eine Aussprache mit Wehrpflichtigen und deren Eltern (Mitglieder der SED) im Stadtbezirk Berlin-Weißensee musste ergebnislos abgebrochen werden, weil die Eltern die ablehnenden Diskussionen ihrer Kinder unterstützten und deren Standpunkt vertraten.
Im Verlauf der Musterung wurden auch eine größere Anzahl von Vorverpflichtungen, die von den Wehrpflichtigen bei der Erfassung abgegeben wurden, wieder zurückgenommen. Dazu wurden im Wesentlichen folgende Begründungen angeführt:
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zum Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtung noch nicht volljährig gewesen zu sein und deshalb die Verpflichtung nicht mehr anzuerkennen;
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die Eltern waren mit der damaligen Entscheidung nicht einverstanden;
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die Verpflichtung wären sie nur eingegangen, um weiteren Diskussionen aus dem Wege zu gehen und ihre Ruhe zu haben; sie wären dazu überredet worden.
Außerdem wurden die Verpflichtungen als Soldaten auf Zeit vorwiegend von Vorimmatrikulierten zurückgenommen.
Bei der Mehrheit der Wehrpflichtigen, die ihre Verpflichtung als Soldat auf Zeit zurückzogen, konnte festgestellt werden, dass vom Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtung bis zur Musterung weder im Betrieb noch vom WKK der entsprechende Kontakt mit den Wehrpflichtigen gehalten wurde, um sie in ihrer Absicht als Soldat auf Zeit zu dienen, zu festigen. In dieser Zeit wurden sie durch ehemalige NVA-Angehörige, besonders Soldaten auf Zeit, durch Bekannte und ihre Eltern zur Zurücknahme ihrer gegebenen Verpflichtung beeinflusst.
Erscheinungen der politisch-ideologischen Diversion
Die politisch-ideologische Diversion unter den Wehrpflichtigen kam besonders durch negative und unklare Meinungen und Auffassungen zum Ausdruck, die sich einmal durch den Einfluss westlicher Fernseh- und Rundfunkstationen herausbilden, zum anderen aber auch durch familiäre Westverbindungen hervorgerufen werden. Als besonderer Schwerpunkt der politisch-ideologischen Diversion traten dabei unklare Diskussionen zum Freund-Feind-Problem in Erscheinung.
Im Wesentlichen wurden folgende Argumente bekannt:
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Der Westen will doch keinen Krieg; die westdeutsche Bevölkerung will auch Frieden;
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Osten und Westen werden sich hüten, einen Krieg zu beginnen, weil ja dann sowieso nichts übrigbleibt;
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soll ich etwa auf meine Verwandten schießen?
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der Frieden wird nur am Arbeitsplatz verteidigt;
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zur Verteidigung haben wir doch unsere Freunde, die uns schützen können (SU, ČSSR, Polen);
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ich bin grundsätzlich gegen jede Armee.
In Berlin zeigten sich die Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion besonders in Diskussionen zur Staatsgrenze, z. B. äußerte ein Teil der Gemusterten, dass sie nicht schießen würden, wenn Personen versuchen sollten, die Staatsgrenze zu durchbrechen. Andere Wehrpflichtige betonten, dass sie auf Menschen in Westdeutschland und Westberlin nicht schießen würden, weil sich darunter auch ihre Verwandten befinden könnten.
Unberechtigte Freistellungsanträge
Unberechtigte Freistellungsanträge wurden nur vereinzelt eingereicht. Dabei handelt es sich zumeist um die beabsichtigte Freistellung von Angehörigen kleinerer Handwerksbetriebe, PGH und LPG. In diesem Zusammenhang wurde von mehreren LPG der Wunsch geäußert, die 1966 gemusterten Wehrpflichtigen aus der Landwirtschaft erst dann einzuberufen, wenn die zurzeit ihren Wehrdienst ableistenden LPG-Angehörigen aus der NVA entlassen werden.
Vereinzelt wurden Anträge von Betrieben oder Forschungsinstituten mit der Begründung gestellt, dass bei Einberufung der Wehrpflichtigen die Produktion nicht mehr gewährleistet wäre. Diese Anträge wurden mit den verantwortlichen Organen geklärt und entschieden.
In Einzelfällen versuchten selbst leitende Offiziere der bewaffneten Organe unter den verschiedenartigsten Begründungen eine Freistellung ihrer Söhne vom Grundwehrdienst zu erreichen.
Direkte feindliche Handlungen gegen die Musterungsstützpunkte wurden lediglich aus dem Bezirk Rostock bekannt, wo in der Nacht zum 1.4.1966 der Schaukasten vor dem Dienstgebäude des WKK Rostock von unbekannten Tätern eingeschlagen und beschädigt wurde. Am 31.3.1966 wurde das Hinweisschild des Musterungsstützpunktes I in Rostock von unbekannten Tätern entwendet.
Schlussfolgerungen
Aus den vorliegenden Materialien ergeben sich für die Vorbereitung und Durchführung der künftigen Musterungen folgende Schlussfolgerungen:
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Bei den zukünftigen Musterungen sollten durch die zuständigen Staatsorgane Objekte mit ausreichenden und geeigneten Räumen beizeiten bereitgestellt und den WKK als ständige Musterungsstützpunkte zur Verfügung gestellt werden.
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Die mit der Musterung beauftragten Kommissionsmitglieder, Ärzte, das medizinische Personal und die technischen Hilfskräfte sollten den politisch-operativen und organisatorischen Anforderungen entsprechen. Dabei sollte Wert auf eingearbeitetes, zuverlässiges Stammpersonal gelegt werden, das während der gesamten Musterung im Stützpunkt eingesetzt ist.
Diese Kräfte sollten- •
von den verantwortlichen Staatsorganen rechtzeitig benannt und benachrichtigt werden,
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von den WKK rechtzeitig in ihre Aufgaben eingewiesen werden,
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den Anforderungen qualitativ und in Bezug auf politische Zuverlässigkeit entsprechen und diesbezüglich vorher überprüft werden.
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Durch die örtlichen Staatsorgane sollte die Mitarbeit in den Musterungskommissionen wesentlich verbessert werden. Die verantwortlichen Vertreter des zuständigen Rates sollten ständig – ohne die Erfüllung von anderen Aufgaben – an der Musterung teilnehmen.
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Ein Austausch aller im Musterungsstützpunkt eingesetzten Mitarbeiter sollte weitgehendst vermieden werden.
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Die Auswahl der Agitatoren sollte zweckentsprechend erfolgen.
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Durch den Einsatz von Reservisten und Offizieren aus den jeweiligen Standorten der NVA sollten Voraussetzungen geschaffen werden, um – unter Beachtung und Wahrung der Geheimhaltung – die Fragen der Wehrpflichtigen weitgehendst zu beantworten und stärkeren Einfluss auf die Werbung als Soldat auf Zeit zu nehmen.
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Die Bewerbung zur Aufnahme eines Hoch- und Fachschulstudiums eines Wehrpflichtigen sollte in Abstimmung mit dem zuständigen WKK bearbeitet und entschieden werden.
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Zur Verbesserung der Arbeit mit den Studienbewerbern wäre es zweckmäßig, der Bescheinigung über die Vorimmatrikulierung, die zur persönlichen Vorlage beim WKK bestimmt ist, folgenden Passus beizufügen: »Zur sofortigen Vorlage beim WKK, spätestens fünf Tage nach Erhalt derselben.«
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Die Arbeit der Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung, der Massenorganisationen (FDJ, GST, DTSB, FDGB) sollte koordiniert und wesentlich verbessert werden, um die Wehrpflichtigen in den Schulen, Betrieben und Instituten näher mit den Aufgaben und Zielen der Landesverteidigung vertraut zu machen und stärkeren Einfluss auf die vormilitärische Erziehung und die Gewinnung der Wehrpflichtigen als Soldat auf Zeit zu nehmen.
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Die als Soldat auf Zeit gewonnenen Wehrpflichtigen sollten bis zu ihrer Einberufung durch die zuständigen WKK stärker betreut werden, um eine Zurücknahme der Verpflichtung zu verhindern und sie besser ideologisch und vormilitärisch auf den Wehrdienst vorzubereiten,
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Bei Herausgabe neuer Weisungen oder Richtlinien für die Musterungen vom MfNV sollten die zuständigen Mitglieder der jeweiligen Musterungskommission rechtzeitig mit dem Inhalt vertraut gemacht werden.